Ich wage es: Der beste
Film zum Thema Amoklauf kommt aus Deutschland. Regisseur Thomas
Sieben erzählt nicht in erster Instanz die Geschichte eines
Amokläufers, stattdessen erzählt er von den Dingen, die zählen.
Abseits biographischer Strichlisten, Kommentaren von denen und jenen,
die dachten Hans Wurst sei immer so ein lieber Junge gewesen; den
Nachbarn, den entsetzten, die gar nicht glauben wollten, dass so
etwas auch in der bayerischen Provinz passieren könnte. Oder eben
kalkulierter Tathergangs-Rekonstruktion und den damit verbundenen
Diskussionen darüber, was geht oder was nicht. All das klammert
„Staudamm“ klugerweise aus. Der Blick auf den Amoklauf eines
Jungen ist zunächst einmal der eines Außenstehenden, der am
Küchentisch in seiner Wohnung im Rahmen einer zeitlich befristeten
Anstellung die Akten wälzt, ordnet und hörbar macht, um so das
Leben eines viel beschäftigten Juristen zu erleichtern, der selbst
in den Skype-Sitzungen nicht den Blick von den Akten abwenden kann.
Es ist in gewisser Weise unser Blick, den wir uns über
Zeitungsartikel und Fernsehberichte eröffnet haben, zuzüglich
einiger Trivia-Informationen über das, was einige Augenzeugen
gesehen haben wollen und was nicht. Dieser Blick ist vage und fern.
Sieben kehrt nun in die finstersten Winkel ein, indem er die
Perspektive eines Outsiders wählt und sie sukzessive zum Insider
wandelt. Mit jedem Mosaikstück des Falles, das zu den Gründen für
den Amoklauf führt, mit jeder Sekunde gemeinsam mit der Überlebenden
Laura und der sich langsam entfaltenden Romanze zu ihr. Sieben hält
das in einer besonders kraftvollen Szene fest: nach einer
romantischen Nacht in einer bayerischen Dorfkneipe steigen die beiden
Protagonisten in die Schule des Amoklaufs ein. Sie rasen euphorisch
durch die Gänge, beseelt von dem Gedanken aneinander Halt gefunden
zu haben. Während sie auf der Treppe eine Pause macht, geistert er
ins nächstgelegene Stockwerk. Es kehrt Stille ein, er atmet ruhig.
Seine Arme winkeln sich an, sodass ein imaginiertes Gewehr seinen
Platz findet. Er nimmt den Finger an den Abzug. Er drückt ab und
gibt ein leises Schussgeräusch von sich. Bähm. Schnelle Drehung,
noch ein Schuss. Bähm. - Der Amoklauf in „Staudamm“ führt zu
Gründen, die jedem von uns innewohnen. Er führt zur Wut, zur
Frustration, zu den Nackenschlägen, die impulsiv ausgekotzt werden.
Die Rückschläge vergessen, die erdrückenden Erwartungen
zerschlagen, die unendliche, überwältigende Ohnmacht für einen
Augenblick der Allmacht Platz gemacht. Die Reise dorthin vollzieht
der Film kaum merklich, das Einzelschicksal dient eher als
Fallbeispiel. „Staudamm“ ist nicht erschreckend, weil er einen
Amoklauf und die Biographie seines Verursachers reflektiert,
„Staudamm“ ist erschreckend, weil wir an diesem Ort die
Amokläufer sind. Und damit alleine mit unseren Problemen und den
finstersten Winkeln unserer Herzen.
7/10