Donnerstag, 27. Dezember 2018

Grenzen überwinden - "Your Name" [JP '16 | Makoto Shinkai]

Toll und vor allem weitgehend ohne große Mätzchen erzählt: da wird sich ein paar Mal in den Schritt gefasst und die Brüste betastet, aber die Lautstärke handelsüblicher Anime bleibt einem erspart. Die primäre Verortung als Körpertausch-Komödie ist dabei nur eine Falle, um sich ab des originellen Twists Fragen zum ewigen Leib-Seele-Dilemma und vor allem dem Wesen von Erinnerung zu stellen. In der hemmungslosen Sentimentalität des Filmes, die sich mit Blick auf das dargestellte Sujet und die damit angepeilte Zuschauerschaft nur als konsequent erweist, drücken sich außerdem eine ganze Reihe von jugendlichen Sehnsüchten aus. Die Körpertausch-Prämisse verbindet sich dabei auf sinnige Weise mit den naiven, romantischen Vorstellungen der Teenager, die ganz fest an eine schicksalshaft vorherbestimmte, und vor allem alle Zeiten und alle leiblichen Limitationen überwindende Liebe glauben möchten. Das Gedankenspiel, im Körper des jeweils anderen leben zu müssen, verkettet sich dann auch grandios mit den Angst- und Vorstellungswelten der Adoleszenz: nie wieder wird die Entfremdung vom eigenen Körper und die dadurch entstehende Verunsicherung tiefer empfunden und nie schienen die Antworten auf die Fragen nach der eigenen Identität, einer Idee von der eigenen Rolle in der Welt, drängender. Im Bestreben aneinander wieder zu erinnern und einander wiederzufinden, erhoffen sich Taki und Mitsuha, die Begrenzungen des Körpers zu überwinden und schlussendlich transzendieren zu können. Das alles gipfelt weder in unangenehmem Slapstick, noch im ganz peinlichen Pathos, das Shinkai auch hier stets sucht, das sich jedoch vor allem in einem fast durchgehenden, melancholischen Grundtenor ausdrückt. Dass ein solcher Film die internationalen Kinocharts zu erklimmen vermag, lässt einen den Glauben an die Kraft des populären Films zudem nicht gänzlich verlieren. Und statt der Superhelden dürfen diesmal ein paar jugendliche Romantiker zur Rettung der Welt eilen – mit der Kraft einer Liebe, die alle physikalischen Grenzen überwindet.

Samstag, 22. Dezember 2018

"Polizeiruf 110: Tatorte" [DE '18 | Christian Petzold]

In seinen ersten beiden Beiträgen zur Polizeiruf-Reihe ließ Petzold noch erahnen, welche Chancen seine Mitwirkung an diesem Format bergen könnte. Wo sich seine Idee vom Film nicht mit den zu Konventionen erstarrten Strukturen des Krimi-Formats vereinbaren lässt, ergeben sich spannende Reibungspunkte und damit vielerlei Möglichkeiten zur Subversion. „Kreise“ und „Wölfe“ kommentierten die deutsche TV-Landschaft, so wie sie es gleichermaßen verstanden, darüber hinauszuweisen. Die Romanze zwischen Hans von Meuffels und Constanze Hermann installierte Petzold auf Kosten des Krimi-Plots mindestens gleichberechtigt, in „Wölfe“ experimentierte er zudem mit den expressiven Bilderwelten des deutschen Stummfilms. Im dritten Film, Abschluss der von Petzold verantworteten Polizeiruf-Trilogie und Abschied von Matthias Brandt in seiner Kommissaren-Rolle, ist das Drehbuch-Rascheln allerdings lauter geworden. Damit einhergehend ist Meuffels mehr denn je Sprachrohr seines Regisseurs. Andauernd gibt es einen Schlaumeier-Kommentar, eine korrigierende Bemerkung oder ein genervtes Ausatmen. Mit den Methoden der neuen Partnerin werden nämlich gleichsam die filmischen Methoden des Subjets kritisiert. Wenn diese auf Zwischenfragen ihres Vorgesetzten wartet, stößt sie lediglich auf Stille, wenn sie dessen Tathergangs-Rekonstruktion mit dem Smartphone zu filmen versucht, verliert er endgültig die Fassung. „Tatorte“ ist die postmoderne Dekonstruktion des 20:15-Uhr-Krimis und dabei ebenso neunmalklug wie unaufrichtig. Petzold scheint sich streckenweise sogar an seinem eigenen Film zu langweilen und trägt seine Abscheu über Meuffels offen zur Schau. Maximal zynisch ist auch der Abgang seiner neuen Partnerin, deren Tod lediglich Bewandtnis für die Charakterentwicklung des Kommissars hat. Der darf dann mit seiner Herzdame selig in einem schlechten Laurel und Hardy-Sketch schwelgen und alles ist gut. Wäre es stattdessen nicht Subversion genug gewesen, den Sendeplatz mit einem guten Film zu okkupieren? Und all Kritik dadurch zu äußern, es einfach besser zu machen als diejenigen, die man kritisiert?

Mittwoch, 19. Dezember 2018

Gemeinsam Gespenst sein – Das Kino von Christian Petzold

Der eisige Windhauch, der aus den angestaubten Schnitträumen der Berliner Schule zu dringen scheint, ist gar nicht so eisig. Aus den formalen Selbstbeschränkungen dieser lose miteinander assoziierten Filmemacher, die vielleicht eher eine Philosophie des Kinos eint, auch gleichermaßen emotionale Kälte abzuleiten, wäre grob fahrlässig, Und es entginge einem eine Vision vom Kino, die gerade in der deutschen Kinolandschaft ein Gegengewicht zu verfilmtem Geschichtsunterricht oder Komödien über Männer und Frauen bilden könnte, indem es Platz für die Zwischenräume und Transitzonen menschlicher Biografien lässt. Jene Orte also, an denen das Gespenst sein Dasein fristet. Durch die Kino-Landschaften Petzolds geistert es seit jeher. Seine Figuren streifen durch diese Landschaften immer schwer nahbar, verloren, nicht wirklich da, nicht wirklich weg. Es wird schnell klar: das Kino Petzolds ist nicht nüchtern, sondern schüchtern.

Intrinsische Charaktere, keine Extrovertierten oder Paradiesvögel, sondern in sich brodelnde, schüchterne Wesen, Einzelgänger, Grenzgänger bilden das Gravitationszentrum seiner Filme, laden sie auf. Seine Figuren wandeln auf Grenzen, bilden also eine Grenzerfahrung ab, schweben irgendwo im Dazwischen, harren in Zonen des Übergangs aus. Es geht immer um Gespenster, also die Vergangenheit und ihre Erfahrungen und wie sie in die Gegenwart hineinwirkt, um die Zukunft zu gestalten. Und es geht darum, wie sehr wir uns von unserer Vergangenheit gefangen nehmen, lähmen lassen; wie deterministisch unsere Leben vorgezeichnet sind, ob wir es auf Schienen durchfahren oder ob wir vor einer leeren Leinwand stehen. Mit der Vergangenheit sind die Schulden, mit denen wir beladen sind. Und da ist die Idee der Absolution und die Frage, ob wir sie erwarten sollen, sie erwarten dürfen.

Mit den Hauptfiguren seiner Filme bin ich stets auf der Suche, oder auf der Flucht, manchmal ist das eine nicht vom anderen zu unterscheiden. Seine Filme zeichnet dabei eine eigentümliche impressionistische Qualität aus, wenngleich er sich bisweilen in expressionistischen Formspielen erprobt. Seine Figuren sind impressionistisch in dem Sinne, dass sie verschlossen bleiben, nach innen gerichtet. Jedes Zeichen, das nach außen dringt und anzeigen könnte, wie es um die Innenwelt der Figuren bestellt ist, gilt es deswegen umso begieriger, umso aufmerksamer zu deuten. Die Sichtung eines solchen Kinos – eines des aufmerksamen, proaktiven Auf-die-Suche-Machens – erfordert dementsprechend höchste Aufmerksamkeit. Petzold macht Angebote, gibt versteckt Hinweise, aber er hält die Tür immer nur einen Spalt offen.

Seine Figuren sind in der Maskerade verfangen, spielen den anderen etwas vor, täuschen diese und sich selbst, manchmal verliert sich ihre Identität und sie stülpen sich eine neue über. Menschen sind dann nicht die, wofür wir sie gehalten haben. Das ist das allzumenschliche, dem Petzold stets mit schier unstillbarer anthropologischer Neugierde begegnet. Manchmal gehen die Menschen auch von uns, aber weigern sich die Szenerie zu verlassen. Sie werden zu Gespenstern. Wenn Petzold romantisch wird, dann können sich seine Figuren plötzlich ohne Spiel und ohne Falsch gegenüberstehen und miteinander sprechen, aneinander anblicken und nichts sagen; können sich aber dennoch erzählen, wie viel sie einander bedeuten ohne schüchtern zur Seite zu blicken. Hier liegt sein Versprechen an die Gespenster des Kinos: In der zwischenmenschlichen Begegnung überkommt man das Gespenster-Dasein, versichert sich seines Wertes, stiftet Sinn; oder man wird gemeinsam zum Gespenst.

Sonntag, 9. Dezember 2018

Feminismus falsch gedacht - "Damsel" [US '18 | David & Nathan Zellner]

Im Kern der Geschichte verbirgt sich ein fatales Missverständnis: Samuel (Robert Pattinson) will seine Angebetete aus den Fängen eines Kidnappers befreien, um sie dann an Ort und Stelle zur Frau zu nehmen. Doch diese hat, wie lästig, ihren ganz eigenen Willen. Die Damsel aus „Damsel“ möchte nämlich gar nicht gerettet werden. Stattdessen will sie einfach nur in Ruhe ihr Leben leben und hofft, ihr Glück in der Ehe gefunden zu haben - wären da nicht all die aufdringlichen Männer, die sich immer noch in den Zeiten eines John Wayne-Western wähnen. Diese wollen Penelope entweder erobern, besitzen oder auch zur Strecke bringen, sollten sich ihre Besitzansprüche an Penelope nicht verwirklichen lassen. „Damsel“ will also ein feministischer Western sein, tappt jedoch in dieselbe intellektuelle Falle wie seine radikalsten Ausprägungen im Netz.

Die Frau stark zu machen, bedeutet nicht einfach den Mann schwach zu machen. Und Ungleichbehandlung löst sich nicht durch eine Invertierung solcher Machtstrukturen auf. Doch statt eines Nebeneinanders legt der Film vor allem eine neue Geschlechter-Hierarchie nahe. Penelope, trotz der Umstände wundervoll gespielt von Mia Wasikowska, steht über den anderen. Den Relikten eines totgeglaubten Genres tritt sie mit emanzipatorischer Entschlossenheit entgegen. Diese Asymmetrie drückt sich vor allem in der Charakterisierung der männlichen Figuren aus. Der zunächst als Protagonist installierte Samuel erweist sich als selbstsüchtiger Träumer, Parson Henry (David Zellner) versucht als rückgratloser Windhund lediglich zu überleben (und wird nach einem jämmerlichen Heiratsantrag abermals gedemütigt) und der Bruder ihres Mannes ist sich noch nicht ganz sicher, ob er Penelope nun umbringen oder doch zur Frau nehmen soll, um sie wie einen Gegenstand aus dem Erbe seines Bruders in seinen Besitz zu überführen. Selbst der Ureinwohner, der zu ihrer Rettung eilt, verschwindet im Morgengrauen mit ihren Pferden.

Männer sind im Kern halt doch ziemliche Arschlöcher, und wenn sie nicht gewalttätig sind, dann sind sie schwach, gefühlsduselig, prinzipienlos oder schlichtweg verrückt. In solchen Typisierungen drückt „Damsel“ vor allem eine Rache- und Vergeltungsfantasie aus, durch die das progressive Grundanliegen des Feminismus plötzlich einen erschreckend erzkonservativen Anstrich bekommt. Als Rache für Dekaden von Filmen mit fehlender oder falscher weiblicher Repräsentation, bis hin zur blanken Frauenverachtung, gibt es nun Filme wie „Damsel“, die die Positionen ins Gegenteil verkehren. Dass der Film aus der Feder eines Brüder-Duos stammt, sollte hierbei nur im ersten Augenblick überraschen. Schließlich sind es nicht selten sich als politisch progressiv verstehende Männer, die in ihrem Kampf für die Geschlechter-Gerechtigkeit weit über das Ziel hinausschießen und aus deren bisweilen hysterisch betriebenen Zelebrierung der Frau sich eine dialektische Gegenbewegung ergibt, die in einer ebenso undifferenzierten Diffamierung des Mannes mündet. Von der Lust des männlichen Liberalen an der Selbstkasteiung mal ganz zu schweigen.

Aus der reizvollen Prämisse, nämlich einer Frau, die den alten Gesetzen des Westens und den Konventionen der Zeit als unüberbrückbarer Widerstand begegnet, könnte sich sicherlich ein guter Film ergeben, zumal sich starke Frauenfiguren auch zu den entbehrungsreichen Zeiten der Westward Expansion historisch fundieren lassen. Aus dem feministischen Anliegen des Filmes ergeben sich aber leider zunehmend Akte der Demütigung und Verachtung, die kein Mann, also kein Mensch, verdient hat.

Sonntag, 25. November 2018

Was nicht erinnert werden will - "Shoah" [FR '85 | Claude Lanzmann]

So wie dies ein Film über das Erinnern ist, und damit gegen das Vergessen, so ist es ein Film der Gesichter. In ihren Konturen hält sich das Versprechen versteckt, der Erinnerung irgendwie fassbar werden zu können. Sie sind die Projektionsfläche, in ihnen finden also die Träume, die Ängste, das Denken des Zuschauers Ausdruck. Und sie sind schließlich des Filmemachers einzige Chance, denn sie gewähren Einlass, sie lassen die Dinge sichtbar werden, erzählen das, was in Worten keine angemessene Gültigkeit besitzt. Und sie grenzen an das, was nicht ausgesprochen werden kann, weil es zu gewaltig ist in seiner Erfahrung, aber auch in den Implikationen, die es birgt. „Shoah“ ist also nicht zufällig ein Interview-Film geworden, muss doch die Annäherung an nähere Geschichte auch immer über eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Schicksal des Individuums erfolgen, weil erst in diesem die Konsequenzen politischer Prozesse sichtbar werden.

Die Stimmen der Zeitzeugen werden von Claude Lanzmann voll ausgespielt. Der Film ist so lang, weil er sich die Zeit nimmt, all diesen Stimmen, in den Eigenheiten der jeweiligen Sprache, aber auch in den Eigenheiten der Sprechenden, einen Raum zu geben. Denn erst in Stimme und Sprache finden der Schmerz und der Horror der Erfahrung zu einem genuinen Ausdruck. Immer wieder ersticken die Stimmen in den Gesprächen, als stießen sie auf einen unsichtbaren Widerstand; etwas, das ihnen verbietet, weiterzusprechen, weil es zu tief führen würde. Dort liegt das Trauma begraben. In einer Schlüsselszene redet Lanzmann auf einen jüdischen Überlebenden ein, ein Friseur aus Israel. Er drängt ihn dazu, weiterzusprechen, schließlich müsse er weitersprechen, um das Vergessen zu verhindern. Der Frisur bittet darum, ihn nicht weiter zu drängen, die Erinnerung sei zu schmerzhaft. Schließlich lässt sich dieser doch dazu bewegen, seine traumatischen Erinnerungen weiter zu verbalisieren, unter Tränen. Lanzmann wird hier zum Geburtshelfer einer Erinnerung, die er durch seine filmische Arbeit gleichzeitig in das Kollektivgedächtnis seines Publikums überführt.

Die Gesichter der Täter sind anders als die der jüdischen Opfer anonymisiert. Sie sind über einen zweiten, abgefilmten Bildschirm, der ein überbelichtetes, schlecht aufgelöstes Videobild einer versteckten Kamera zeigt, entrückt und verzerrt. Es macht die Gesichter der Täter unwirklich und monströs und ironischerweise ist diese Form der Repräsentation in gewisser Weise ein selbst gewähltes Schicksal. Die meisten von ihnen möchten nicht gezeigt werden, nur unter falschem Namen im Film auftreten. Es drängt sich natürlich die Frage auf, wer denn nun Verantwortung übernimmt, wenn jeder nur ein kleines Zahnrad in einem größeren System war, jeder nur auf Befehl gehandelt und jeder nur mitgemacht. Das ist aus der Perspektive des Zuschauers (auch als Zuschauer der Geschichte) so frustrierend, wie es beängstigend ist, weil es einen Wesenskern des Menschen offenbart, der alledem widerspricht, an das man glauben möchte. Und weil auf die Fragen nie befriedigende Antworten gefunden werden (können).

Es verbleibt ein vernichteter Glaube, restlos ausgelöscht. Verlassen von der Welt, verlassen von der Menschheit. Lanzmann tritt den Zeitzeugen nicht mit der moralischen Überheblichkeit gegenwärtigen Wissens entgegen, also aus der Gewissheit eines historischen Danach heraus, er fragt nicht nach einer moralischen Beurteilung der Täter selbst, sondern scheint solche weitergehenden Fragen als Nebenprodukt eines zunächst einfachen Rekonstruktionsprozesses fragmentarischer Erinnerungen zu begreifen. Auch hier sprechen die Gesichter, und sie sprechen zu jedem anders, deshalb sind sie natürlich eine Projektionsfläche. Ich möchte in den Gesichtern der Täter bisweilen Reue erkannt haben, stilles Schuldbewusstsein, das nagt, das vor der Kamera aber nicht ausgesprochen werden kann; denn würde es laut ausgesprochen, könnte es Wirklichkeit werden. Die Kamera muss zur Stelle sein, wenn die Worte nicht genügen, die Sprache an ihre Grenzen gerät. Und nichts bleibt als der Ausdruck einer Erinnerung, die nicht erinnert werden will.

Samstag, 10. November 2018

Vom Leben ohne Erinnerung - "Without Memory" [JP '96 | Hirokazu Kore-eda]


„I know this is a strange question but is this reality?“

„Without Memory“ gehört zu einer Reihe von dokumentarischen Filmen, die Hirokazu Kore-eda Ende der Neunziger Jahre für TV Man Union drehte – einer seit 1970 bestehenden, unabhängigen Produktionsfirma. Der Film erzählt die Geschichte von Hiroshi Sekine, der infolge einer Mangelernährung in einem Krankenhaus sein episodisches Gedächtnis verlor. An Ereignisse, die über eine Stunde zurückliegen, kann sich dieser nicht erinnern. Lediglich starke Bewusstseinszustände wie Gefühle der Angst verhaften sich bisweilen längerfristig in seinem Gedächtnis.

Der Film wird vor allem über ein narratives Voice-over erzählt, das zu Bildern aus den Privatarchiven der Familie durch die Biografie Sekines führt oder medizinische Details zu seiner Verfassung erläutert. Hier ist der Film klar in den Strukturen klassischen Fernsehen-und Dokumentarfilm-Handwerks verhaftet, indem er sich chronologisch auf einen kleinen Abschnitt in Hiroshis Leben konzentriert, ohne sich in formale Experimente zu begeben. In den Zwischenbildern und wiederkehrenden Themen wie Erinnerung und Verlust wird aber auch schon jener Kore-eda sichtbar, der mit seinen einfühlsamen Spielfilmen und zutiefst humanistischen Gesellschaftsstudien zu einem der meist renommierten japanischen Filmemacher der Gegenwart aufsteigen sollte. In seiner Themenvielfalt streift der Film dabei etliche philosophische Diskurse und stellt eine ebenso große Anzahl von Fragen.

Fragen

Wie sehr ist unsere Identität beispielsweise materiell fundiert? Und falls sie es nicht ist: wie können Körper und Geist als voneinander getrennte Größen gedacht werden? Welche Rolle spielt bei der Identitätskonstruktion die Erinnerung? Fungiert das menschliche Gehirn als leeres Gefäß, das zunehmend mit Erfahrungen gefüllt wird und ist die Summe dieser Erfahrungen dann das, was wir als das Ich wahrnehmen? Oder ist das Ich nur eine Illusion des Gehirns, das uns gleichermaßen ein Bewusstsein illusioniert, um mit der Fülle an Sinneseindrücken zurechtzukommen? Welche Rolle spielt der Andere in der Bewusstwerdung des Selbst? Existiert das Selbst in der Differenz zum Anderen oder in der Summe seiner Gemeinsamkeiten? In Kombination aus beidem?

„I always feel like this isn't the way it's supposed to be. And then I can't tell whether it's reality or my imagination.“

Hiroshis Leben ist stehengeblieben, aber er bleibt da, zum Gespenst geworden, in einer Endlosschleife gefangen, in der die eigene Situation immer wieder neu gelernt, neu akzeptiert werden muss. Die Aufzeichnungen des Kamerateams um Kore-eda sollen ihm helfen, sich zu erinnern. An einer Stelle übernimmt er selbst die Kamera, um die Gesichter und Namen des Filmteams festzuhalten. Der Speicher der Kamera, die Kamera selbst, dient hier als Erinnerungsersatz, übernimmt die Aufgaben, zu denen Hiroshis Gedächtnis nicht mehr imstande ist.  Marshall McLuhans Theorie von den „extensions of man“, wonach die Medien und die ihr zugrundeliegenden Technologien als Erweiterungen, oder gar Amputationen unseres biologischen Körpers fungieren, bekommt an dieser Stelle eine ganz bildliche Entsprechung geliefert.

„If I really exist or not. I just don't know.“

Was passiert mit dem Menschen, wenn sich das Reservoir an Erinnerungsschätzen nicht mehr füllen lässt? Hiroshi bleibt im vollen Bewusstsein seiner Behinderung, wenngleich er sie immer wieder vergisst. Er muss jedes Mal aufs Neue um die Konsequenzen seines Zustandes erfahren. Wenn das Ich die Summe aller Erfahrungen ist, also die Erinnerung der Erfahrung, was passiert dann mit dem Ich, wenn es keine neuen Erinnerungen mehr hinzufügen kann? Während die Kinder älter werden, eine neue Tochter geboren wird, verbleibt Hiroshi in der Vergangenheit, erinnert sich an jene "Version" seiner Kinder, die vor ein, zwei Jahren existierte. Erst im Gespräch mit seiner Frau, die sich über den gesamten Film hinweg mit einer schier übermenschlichen Geduld um ihren Mann kümmert, lernt er, dass die Zeit weiter vorangeschritten ist.

„My films are not the only ones concerned with memory. It's something to do with the medium itself.“ - Hirokazu Kore-eda

Die Kamera fungiert im dokumentarischen Film als Erkenntnis-Apparat. Hier fungiert diese jedoch zuvorderst als eine Art Erinnerungsmaschine, die eine subjektive Erfahrung technologisch zu fixieren versucht. Später erklärt Hiroshi, dass er sich selbst in den Aufnahmen kaum wiedererkennt. Stattdessen sei es so, als schaue er einem Fremden dabei zu, wie er mit seinen Kindern spiele: „When I see myself in pictures or in videos, I just can't recognise that person as me. I have no impression of having been there. It's like I'm watching a film made about someone other than me. I think maybe someone who looks like me is playing at being me'” - Denn es ist am Ende eben doch nur eine Kamera, die die hochkomplexe sensorische Erfahrungswelt von Hiroshi wiederzugeben versucht, Bild und Ton zu einer Einheit verschmolzen, zwei von fünf Sinnen, eine Repräsentation, in anderen Farben und anderen Auflösungsraten. Wie soll die Komplexität der Welt, geschweige denn die Komplexität sensorischer Wahrnehmung hier angemessen Ausdruck finden? Sie kann nur repräsentiert werden - abstrahiert, vereinfacht, heruntergebrochen.

"Sekine himself doesn't even recognise that he has a personality. But meeting his family proved to me that you can have an identity that depends on other people's memories. So even when you die, part of your identity will reside in others." - Im Schicksal von Hiroshi spiegeln sich die ewigen Streitfragen dokumentarischen Filmemachens wider - Fragen zum Wesen von Erinnerung, Identität, Wahrheit und Realität. Und worin besteht der Sinn von alledem? Sich in den Erinnerungen anderer Menschen zu verewigen, um im Kollektivgedächtnis einer Gesellschaft in die Ewigkeit getragen zu werden? Warum ist dieser Wunsch überhaupt da? Was kümmert uns die Welt, sobald wir diese verlassen haben? Oder ist es bloß Narzissmus, nicht einmal im Tod vergessen werden zu wollen, sondern auf ewig erinnert? Kore-eda scheint die Identität des Menschen relational zu denken. Erst im Zusammenspiel mit anderen kann sie sich formen, wachsen und erinnert werden. Die einzelnen Bauteile unseres Ichs verhaften sich in den Menschen, die uns umgeben und erst in ihrer Summe ergeben sie den Menschen in seiner Gesamtheit. Die Identität konstituiert sich also aus einer Vielzahl von Erinnerungen. Und sie wird selbst zum Gegenstand einer Erinnerung – in den Menschen, mit denen wir unser Leben teilen.  Das ist, bei aller Tragik, der Trost, den „Without Memory“ nahezulegen vermag: nicht zu verschwinden, solange man erinnert wird. Nur wofür ist man wert, erinnert zu werden?

"The halfway house of memory: an interview with Hirokazu Kore-eda.." The Free Library. 2003 CineAction 23 Aug. 2018 https://www.thefreelibrary.com/The+halfway+house+of+memory%3a+an+interview+with+Hirokazu+Kore-eda.-a099288843
Jonathan Romney, “The Memory Game,” The Guardian, 28 September 1999, https://www.theguardian.com/culture/1999/sep/28/artsfeatures2

Den gesamten Film gibt es hier online.

Sonntag, 4. November 2018

Zuletzt gesehen: Oktober 2018

"Hold the Dark" [US '18 | Jeremy Saulnier] - 5/10

"Judge Dredd" [US '95 | Danny Cannon] - 4/10

"End of Watch" [US '12 | David Ayer] - 3/10

"Phoenix" [DE '14 | Christian Petzold] - 7/10

"Mandy" [US, BL '18 | Panos Cosmatos] - 7/10

"Dirty Money" [US '18 | Season 1] - 6/10

"Psycho II" [US '83 | Richard Franklin] - 8/10

"Babylon A.D." [US '08 | Mathieu Kassovitz] - 5/10

"Kicking and Screaming" [US '95 | Noah Baumbach] - 8/10

"Young Adult" [US '11 | Jason Reitman] - 6/10

"Gerald's Game" [US '17 | Mike Flanagan] - 5/10

"Ordinary People" [US '80 | Robert Redford] - 7/10

"Schießen Sie auf den Pianisten" [FR '60 | François Truffaut] - 7/10

"22 July" [US '18 | Paul Greengrass] - 6/10

"Solo: A Star Wars Story" [US '18 | Ron Howard] - 4/10

"A Star Is Born" [US '18 | Bradley Cooper] - 6/10

"Bad Times at the El Royale" [US '18 | Drew Goddard] - 4/10

"Our Souls At Night" [US '17 | Ritesh Batra] - 5/10

"Eighth Grade" [US '18 | Bo Burnham] - 8/10

"White Girl" [US '15 | Elizabeth Wood] - 5/10

"Meet John Doe" [US '41 | Frank Capra] - 6.5/10

"The Garden of Words" [JP '13 | Makoto Shinkai] - 5/10

"Bailout: The Age of Greed" [CA '13 | Uwe Boll] - 3/10

"A Day Off" [KR '68 | Man-hui Lee] - 6/10

"Calibre" [UK '18 | Matt Palmer] - 4/10

"Apostle" [US, UK '18 | Gareth Evans] - 5/10

"Commando" [US '85 | Mark L. Lester] - 6/10

"The Night Comes for Us" [ID '18 | Timo Tjahjanto] - 4/10

"Transit" [DE '18 | Christian Petzold] - 7/10

Sonntag, 28. Oktober 2018

Es ist nicht der Kapitalismus, es sind die Menschen! - "Mr. Deeds Goes to Town" [US '36 | Frank Capra]


Gestatten: Mr. Deeds (Gary Cooper). Ein bodenständiger, junger Mann vom Land. Ein anständiger Kerl. Die Zeiten sind hart, aber Mr. Deeds begegnet ihnen mit dem ungebrochenen Optimismus eines Idealisten, der bei allen Anstrengungen des (Über-)Lebens in der wirtschaftlichen Krise die Freude am Dasein nicht verlernt hat. Tuba-spielend begleitet er seine eigene Abschiedsfeier aus dem heimatlichen Nest, das er verlässt, nachdem ihn eine Gruppe Anwälte darüber unterrichtet, dass er alleiniger Erbe eines Vermögens geworden ist - zwanzig Millionen Dollar warten auf ihn. Das Geld führt ihn in die Stadt, jenen urbanen Raum, der in Capra-Filmen bestenfalls Unheil und schlimmstenfalls Verderben bedeutet. Das Verderben deutet sich an, nachdem Mr. Deeds erkennen muss, in welch korrumpierten, menschlichen Sumpf er gestolpert ist. Die Presse zerreißt jeden seiner öffentlichen Auftritte und nach einem gemeinsamen Abendessen zeigt er sich enttäuscht von der künstlerischen Elite der Stadt, die für seine Gedichte nichts als beißenden Sarkasmus übrig hat. Mit ein paar kräftigen Kinnhaken versucht er ihnen die Arroganz aus dem Leib zu prügeln.

Denn auch das ist ein Markenzeichen des kleinen Mannes aus Capras „Little-Men“-Trilogie: wenn Sprache und Institutionen Gewalt ausüben können, dann können es die guten, alten Fäuste erst recht; und wenn man auch kein Intellektueller ist, so gelangt man doch mit ganz eigenen Worten zu profunden Einsichten über das menschliche Miteinander. Mit der Zeit wirkt der (bisweilen seltsam geartete) Humanismus von Mr. Deeds entwaffnend auf das elitäre Umfeld, in das er geworfen worden ist. Louise (Jean Arthur), die zynische Reporterin, die ihm nachspionieren und auf seine Kosten Schlagzeilen produzieren soll, verliebt sich in ihn. Der Zynismus verliert bei ihm seine Strahlkraft. „And I got to thinkin' about what Thoreau said: "They created a lot of grand palaces here, but they forgot to create the noblemen to put in them"“ bedauert Mr. Deeds in einer Szene. Mit den Nobleman ist natürlich auch er selbst gemeint.

In einer Schlüsselszene wird Mr. Deeds in seiner Villa von einem Farmer mit einem Revolver bedroht, ein Sinnbild für die Verlierer der Great Depression. Dieser macht Mr. Deeds als Repräsentant der vermögenden Elite für seine persönliche Misere mitverantwortlich. Mr. Deeds erkennt allmählich, dass er in die Lage versetzt wurde, über die Ressourcen der Elite zu verfügen, ohne ihrer Klasse im sozialen Sinne anzugehören. Eine der Chance, die diese Lage birgt, ist aus ihr heraus für gesellschaftliche Gerechtigkeit einzustehen und das eigene Vermögen zur Schaffung eines Friedens zwischen den Klassen wirksam zu machen. Er beginnt damit, den Arbeitslosen der Stadt die Papiere für eine 10 Hektar große Farm auszustellen, wenn diese sich im Gegenzug dazu bereit erklären, diese für mindestens drei Jahre zu bewirtschaften. Er erkennt also, dass die einen zu viel haben und die anderen zu wenig. Und er erkennt die Verantwortung an, die deswegen jenen zukommt, die im freien Wettbewerb am Ende als Gewinner dastehen. Er beginnt gewissermaßen damit, seine eigene New-Deal-Politik zu betreiben, angeleitet von der Idee der agrarian ideals.

Trotz alledem ist Mr. Deeds jedoch alles andere als ein linker Revoluzzer; er ist nicht einmal wirklich kritisch gegenüber dem Kapitalismus und seinen Auswüchsen, sondern möchte die Ungerechtigkeiten, die im kapitalistischen Wirtschaftssystem nichtsdestotrotz entstehen, über einen tugendhaften Individualismus zivilisieren. Das bedeutet: der Einzelne muss das Richtige tun. Und das Problem ist nicht der große Reichtum, sondern nur, wie der Reiche mit ihm umgeht. Mr. Deeds propagiert damit eine Art solidarischen Kapitalismus nach dem Vorbild Andrew Carnegies, welcher als einer der reichsten Männer der Weltgeschichte damit begann, seinen Reichtum über gemeinnützige Projekte an die Gemeinschaft zurückzuführen. Die Kritik am Kapitalismus, die in der Prämisse der Erzählung schlummert, sowie die Kritik an der Elite, die Mr. Deeds sichtlich befremdet, werden auf einen wirtschaftsliberalen Grundappell heruntergebrochen. Systemische Fragen werden nicht weiter verfolgt dort, wo das System nicht das Problem ist, sondern immer nur der Einzelne, der darin agiert. Kurzum: Wenn jeder wie Mr. Deeds wäre, wäre die Welt ein besserer Ort. Und das Leben im Konjunktiv wäre ein schönes, wäre es nicht im Konjunktiv.

Sonntag, 21. Oktober 2018

Die Liebe ist ein seltsames Spiel - "Phantom Thread" [US '17 | Paul Thomas Anderson]

Er ist der Künstler. Sie ist die Welt. Sie ist der Bezugspunkt der Kunst, der Ursprung der Inspiration. Die herausfordernde Melange besteht darin, zwischen den eruptiven Rauschzuständen, der wunderbaren Leichtigkeit der Improvisation mit der Welt und den kontrollierten Rahmenbedingungen des Kunstschaffens einen annehmbaren Kompromiss auszuhandeln. Und die Welt dabei nicht zu verlieren in ihrer an sich seienden Form, oder zumindest in einer Form, die nicht gänzlich im Sinne des Künstler-Blickes umgestaltet und verformt worden ist, indem sie vermessen, bürokratisiert, kategorisiert wurde. Es gilt die Wahrhaftigkeit nicht zu verlieren, sondern sie ins Artifizielle zu überführen. Das heißt sie nicht zu zerstören im Prozess, sondern sie zu veredeln. Dann wohnen der Kunst sogar transformatorische Kräfte inne: "In his work I become perfect." „Phantom Thread“ ist perfekt. Und Anderson muss sich schon lange nicht mehr ehrfürchtig verbeugen vor den Größen der Vergangenheit. Er erzählt eine universelle Geschichte, die doch ganz spezifisch ist in der Ausgestaltung seiner Figuren und ihren Eigenheiten. Zugleich ist dies eine wunderbare Liebesgeschichte über eine Liebe, die wirklich die gesamte Laufzeit braucht, um beidseitig entstehen und beidseitig akzeptiert werden zu können.

Er ist umrandet von Opportunisten, Mäzenen, Verehrern, Anhängseln, ökonomischen Notwendigkeiten; bis sie sein Leben streift und die ungebrochene Lebensfreude auch dann nicht verliert, wenn er sie einzuhegen, zu domestizieren versucht. Schon am ersten gemeinsamen Abend macht er sie zum Gegenstand seiner Kunst, er vergegenständlicht das Subjekt, weil es sich seiner Kontrolle und den prüfenden Blicken seiner Bürokraten (Lesley Manville) hier nicht entziehen kann. Aber sie ist nicht das Opfer. Sie ist gleichermaßen fasziniert von dem, was er in ihr sieht. Sein Blick ist sinnstiftend. Und der Film bricht die etablierte Asymmetrie der Beziehung sukzessive auf. Liebe entsteht hier an den Punkten des Widerstandes, der Reibung, nicht in der Dominanz, im Sieg des einen über den anderen. Stattdessen gilt es die Macken, die seltsamen Angewohnheiten, den Fetisch und die Idiosynkrasien des anderen in all seinem Menschsein anzunehmen und aus dem Kampf gegeneinander, für die gemeinsame Sache, einen Lustgewinn zu generieren. Der Film endet in einem Happy Ending, denn Zynismus war eigentlich nie Andersons Sache. Er lernt die Kontrolle abzugeben, sie zähmt ihn, kanalisiert sein Genie. Und sie darf in seiner Kunst so etwas wie Sinn erfahren.

Freitag, 12. Oktober 2018

Die eigene Schaulust - "22 July" [US '18 | Paul Greengrass]

Mit „22 July“ liefert „Based on true Events“-Spezialist Paul Greengrass so ziemlich genau das, was von ihm im Vorfeld zu erwarten war: gut funktionierende Handkamera-Bilder im Nah-dran- und Mittendrin-Modus, ein rhythmisierender Schnitt und gut geführte Schauspieler lassen den Terroranschlag auf Utøya und Oslos Regierungsbezirk im Jahre 2011 aus der allerersten Reihe fast in Echtzeit mitverfolgen. Der Fokus liegt dabei gleichermaßen auf Breivik, wie auf einer kleinen Gruppe von Überlebenden, was mancherorts zu empörten Reaktionen führte. Die Opfer der Anschläge würden vor allem als anonyme Masse porträtiert, Breivik zu viel Plattform gegeben. Solche Stimmen zeichneten sich vor allem durch eine inzwischen obligatorisch gewordene moralische Überheblichkeit aus. Stattdessen sollte sich im Umgang mit Filmen wie „22 July“ mal ehrlich gemacht und die eigene moralische Scheinheiligkeit abgelegt werden: Ich schaue Filme wie diese selbstverständlich aus Schaulust und Sensationsgier – und ich bezweifle, dass ich damit alleine bin. Statt des Gaffens am Straßenrand darf sich bei filmischen Rekonstruktionen realer Begebenheiten allerdings noch schön in die Decke eingemummelt werden und das ganze Grauen, das ist irgendwie so ähnlich tatsächlich irgendwo passiert, aus nächster Nähe (und doch aus sicherer Distanz) bestaunt werden. Und die Faszination geht natürlich vom Täter aus und weniger von den Opfern, weswegen Greengrass Interesse an diesem vor allem aufrichtig ist.

Das Grauen, die Zuspitzungen menschlichen Verhaltens, üben eine ungebrochene Anziehungskraft aus. Horrorfilme funktionieren (auch) nach genau diesem Prinzip: dem Grauen, im Film sichtbar gemacht, in die Augen blicken. Nun bedient sich Greengrass am Grauen der Welt und es drängt sich die Frage auf, wo nun die Fiktion liegt – wo sie beginnt und wo sie aufhört. Wo beschreitet ein Film, der sich konkret auf reale Begebenheiten bezieht, die moralische Trennlinie zwischen geschmackvoller und geschmackloser Unterhaltung? Jeder Filmemacher bezieht sich auf die Welt, die er in einer Repräsentation wieder zusammensetzt, wie offenkundig muss der Bezug zur Realität also sein, um den Filmemacher in die Lage besonderer Verantwortung zu versetzen? Das Fehlen einer klaren Antwort auf solcherlei Fragen macht nur das ganze Ausmaß der moralischen Scheinheiligkeit sichtbar, mit der sich im kritischen Umgang mit solchen Filmen geschmückt werden soll, ohne sich das Nacherleben der Tragödie entgehen lassen zu müssen. Erst sabbernd über zwei Stunden in den Zügen eines Massenmörders nach einer Regung suchen und dann die fehlende Sensibilität Greengrass zu kritisieren, ist maximaler Selbstbetrug. Die Schaulust ist eine zentrale Triebkraft des Kinos generell. Und sie ist immer schuldig, nie unschuldig. Aus einer eben solchen moralischen Ausgangslage gilt es auch einen Film wie „22 July“ zu betrachten.

Sonntag, 7. Oktober 2018

Zuletzt gesehen: September 2018

"Disenchantment" [US '18 | Season 1] - 6/10

"Lessons from a Calf" [JP '91 | Hirokazu Kore-eda] - 7/10

"The Tale of Tales" [FR, IT, UK '15 | Matteo Garrone] - 6/10

"African Queen" [US, UK '51 | John Huston] - 6/10

"Schneewittchen und die sieben Zwerge" [US '37 | David Hand] - 5/10

"Brokeback Mountain" [US '05 | Ang Lee] - 8/10

"Still the Water" [JP '14 | Naomi Kawase] - 6/10

"Phantom Thread" [US '17 | Paul Thomas Anderson] - 8/10

"Avengers: Infinity War" [US '18 | Anthony & Joe Russo] - 5/10

"Upgrade" [AU '18 | Leigh Whannell] - 6/10

"Mindhunter" [US '17 | Season 1] - 7/10

"Der Mieter" [FR, US '76 | Roman Polanski] - 8/10

"Luz" [DE '18 | Tilman Singer] - 4/10

"Die grausame Frau" [DE '86 | Monika Treut & Elfi Mikesch] - 5/10

"Into the Inferno" [UK '16 | Werner Herzog] - 6/10

"Cowboy Bebop" [JP '97 | Staffel 1] - 7/10

"Yakuza" [US, JP '75 | Sydney Pollack] - 7/10

"Carol" [US, UK '15 | Todd Haynes] - 7/10

"Shutter Island" [US '10 | Martin Scorsese] - 5/10

"Damsel" [US '18 | David & Nathan Zellner] - 4/10

"Dornröschen" [US '59 | Clyde Geronimi] - 7/10

"Isle of Dogs" [US, JP '18 | Wes Anderson] - 6/10

"The Land of Steady Habits" [US '18 | Nicole Holofcener] - 4/10

"Touch of Evil" [US '58 | Orson Welles] - 6/10

"Total Recall" [US '90 | Paul Verhoeven] - 6/10

Sonntag, 30. September 2018

Tanz, Jackie, Tanz! - "The Foreigner" [UK, CH '17 | Martin Campbell]

Was Jackie Chan besonders macht? Nun, danke, dass sie fragen. Zunächst: kämpfen. Das kann er wirklich ausgesprochen gut. Fausthiebe, Handkantenschläge, Tritte, Tiger-Style, Kranich-Style, das ganze Programm. Hinzu kommt ein unvergleichlicher Instinkt fürs Humoristische, oder genauer: für körperbetonte Komik. Hier spricht Jackie nur mit seinem Körper, wie ein Tänzer, nur, dass die Tänzer in Jackie Chan-Filmen auch hin und wieder Schellen verteilen. Sein Gesicht hat bei diesen Kämpfen immer die lustigsten Ausdrücke; entweder die Backen aufgebläht, der Mund zu einem erstaunten O geformt oder die Zähne vor Schmerzen zusammengebissen. Scheiße, tat das weh! Natürlich sind diese Fähigkeiten nichts wert, wenn derjenige, der die Kamera auf ihn richtet und derjenige, der das Material anschließend in einer Montage filmisch fruchtbar machen soll, nicht wissen, was sie tun. Jackie Chan ist nicht der gebrochene Charakter, den schon das "Police Story"-Franchise irgendwann aus ihm machen wollte. Dazu fehlt es Jackie an Talent, das er an anderer Stelle im Übermaß besitzt. Damit seine Talente nicht auf dem Boden des Schnittraums enden, muss verstanden werden, welche Erfordernisse dessen Fähigkeiten und dessen manischer Hang zum Perfektionismus an den Schnitt stellen. 

Wo die Fähigkeiten echt sind, muss – ganz im Gegensatz zum sonstigen Sinn filmischer Arbeit - nicht so getan werden, als ob, sondern nur noch Strategien entworfen werden, die ebendiese Fähigkeiten am besten herausstellen. Jackie Chan zu schneiden, heißt nicht zu schneiden, sondern sich zurückzunehmen. Dessen Charaktere brauchen darüber hinaus auch keine tragische Hintergrundgeschichte; zumindest keine, die Jackie heulen, soll heißen: spielen lässt. Das exaltierte Gesichts-Gulasch ergibt im sinnlichen Faust-Ballett eine eigentümliche, humoristische Ausgleichsbewegung, wird aber die selbe Visage plötzlich in die Lage versetzt, existenzielle Krisen glaubwürdig ausdrücken zu müssen, werden die Grenzen eines sehr spezifischen Fähigkeiten-Katalogs erreicht. „The Foreigner“ will unbedingt Drama sein, wenn er viel zu viel Zeit darauf verwendet, Tragik und Motivik eines letztlich doch unfassbar langweiligen Charakters auszugestalten (Vergangenheit bei der Elite der Elite etc. pp.). Martin Campbell versteht Jackie Chan als Schauspieler grandios falsch: Jackie Chan muss tanzen, um zu einem genuinen Ausdruck zu gelangen. Vielleicht könnte er dann sogar die existenzielle Krise seiner Figur in einen einzigen Fausthieb verpacken. Nur muss man gewillt sein, ihn auch tanzen zu lassen.

Donnerstag, 20. September 2018

RFF-Spezial #2 - Himmlische Unfreiheit in "Verführung: Die grausame Frau" [DE '85 | Elfi Mikesch & Monika Treut]

Wanda dominiert, die anderen lassen sich dominieren. Sie ist die Herrin, der die anderen zu gehorchen haben. Das Schicksal ihrer Sklaven ist dabei selbst gewählt: sie wollen geschlagen, bespuckt und erniedrigt werden, sie wollen kein Mensch mehr, sondern Kreatur, niederes Getier, bisweilen sogar Objekt sein. Manche wollen verschwinden, unsichtbar werden, bis zur Selbstaufgabe und im radikalsten Falle bis zur Selbstvernichtung. Sadomasochismus operiert mit invertierten Luststrukturen und sucht gerade die Asymmetrie in der zwischenmenschlichen Beziehung. Mehr noch als eine Krise der Männlichkeit lässt sich im lustvollen Spiel mit dem Schmerz, der Verachtung und Unterwerfung eine Krise des modernen Menschen per se diagnostizieren. Dieser leidet unter dem Erbe einer Freiheit, die er nie selber erringen musste. Jede offene Option birgt die Aussicht einer falschen Entscheidung, jedes Unglück die Aussicht, selber dafür verantwortlich zu sein. Die Albträume des modernen Menschen führen auf kürzestem Wege in die Selbstverantwortlichkeit und damit geradewegs in die Selbstverschuldung. Wanda fungiert als stabilisierende Kraft in einer Welt, die sich stetig verändert. Ihre Erniedrigungen sind ein Ausweg aus der überwältigenden Verantwortung, die der Freiheit stets anhaftet. Sie wird zu einer göttlichen Instanz in einer religiös erkalteten Gesellschaft. Sich Wanda zu überantworten bedeutet auch gleichzeitig den Rückzug in eine voraufklärerische Zeit und die Wiederherstellung einer selbst verschuldeten Unmündigkeit. Und hinter der Sehnsucht nach Strafe scheint vor allem die Gewissheit zu stehen, sich schuldig gemacht zu haben. Der (post-)moderne Mensch steckt tatsächlich in der Krise. Und er vereinzelt sich zusehends. Er hat Zugang zum gesammelten Wissen der Welt und agiert doch nur gelähmt angesichts ihrer überwältigenden Komplexität; und der Schuld, die am Grund der überwältigenden Leiden liegt, die er mitzuverantworten hat. Wie schön wär's also, Sadomasochist zu sein. Wie himmlisch die Aussicht, wie himmlisch die Unfreiheit. 

*gesichtet auf dem Randfilmfest in Kassel

Montag, 17. September 2018

RFF-Spezial #1 - "Luz" [DE '18 | Tilman Singer]

„Luz“ ist in jedem Fall ein genuin filmisches Erlebnis. Mit einer Zusammenfassung inhaltlicher Eckpunkte ist dem Film also kaum beizukommen. „Luz“ ist gleichermaßen die penible Rekonstruktion eines vergangenen Kinos, mindestens einer vergangenen Kinoästhetik und damit natürlich Bestandteil jener Retromanie, die die westliche Filmwelt im Allgemeinen und das Horrorgenre im Besonderen seit mehreren Jahren fest im Griff hat. Neben dem 80er Jahre-Kino, gesteht „Luz“ auch dem 70er Jahre-Kino seine Liebe. Das tut er detailversessen: der richtige Teppich, die richtige Tapete, das richtige Möbelstück, die Klamotten (Sneakers und Cap, ausgelatscht und ausgetragen) verschmelzen hier zu einer Zeitkapsel. Derweil wummert der Synthwave-Score, jedoch mehr hintergründig und akzentuiert als in vergleichbaren Filmen – wenn es denn solche überhaupt gibt. Bildfehler, Farben, Formen, Klänge, 16mm-Filmmaterial, sie alle sollen an die Vergangenheit gemahnen, Referenzgrößen bereitstellen, an denen es sich dann, zwangsläufig, zu messen gilt. Inhaltlich bleibt vieles abstrakt, angedeutet, unausgesprochen, stattdessen wird das Gesprochene in Schleife geschaltet, im Mantra repetiert. Wenngleich man kruden Vorstellungen davon, Filme könnten anhand von Checklisten abgehakt und danach als Summe solcher Checkpunkte bewertet werden, nur allzu schnell eine Absage erteilen möchte, kommt man doch nicht umhin, nach dem Inhalt des Filmes zu fragen. Bricht er sich an der Oberfläche Bahn? Ist er nur Oberfläche und will genau das sein? Thematisiert er eben diese Oberfläche? Für eine rein ästhetische Erfahrung ist „Luz“ dann doch zu sehr darum bemüht, kausale Handlungszusammenhänge darzustellen und am Ende so bedeutungsoffen und vage, dass er sich eigentlich jeder Interpretation dienbar machen lässt. Oder: er ist so leer, dass er mir die Freude an der Interpretation genommen hat. 

*gesichtet auf dem Randfilmfest in Kassel

Sonntag, 9. September 2018

"Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders" [DE '06 | Tom Tykwer]

Das Ende des Filmes ist spektakulär: Hier liest sich „Das Parfum“ als profunde Allegorie auf den Prozess des Kunstschaffens und begreift seinen Protagonisten unmissverständlich als Künstler-Figur. Nach all der Hingabe und all den Entbehrungen, die Grenouille auf der Suche nach dem vollendeten Kunstwerk in Kauf nahm, muss dieser erkennen, dass der eigentliche Gegenstand seiner Kunst (das Subjekt) im Laufe des Prozesses abgetötet wurde. Er war beseelt von der Idee einer vollendeten Kunst, die die weltliche Erfahrung im Kollektivgedächtnis ihrer Rezipienten in die Ewigkeit trägt. Die überwältigende Wirkung, die von seiner Kunst ausgeht, indiziert ihre Grundlage, ihre Inspiration, ihre weltliche Substanz, musste sie sich aber gleichzeitig einverleiben. Hier ist die Kunst zerstörerisch, gewaltig und gnadenlos. Und sie bezeugt eine gewisse Weltvergessenheit, weil sie den Künstler, der die Welt in einer Abstraktion umso intensiver lebt, einsam macht. Am Ende steht er mit seinem Kunstwerk dar, einem Meisterwerk, ganz ohne Zweifel, und ihm bleibst angesichts dieser erschütternden Erkenntnis nicht anderes übrig als sich und sein Kunstwerk der Hysterie der Massen zu überantworten. Er möchte sagen „tötet mich, tilgt mich von dieser Welt, denn ich bin nichts als ein Blender, meine Kunst ist grausam“. Zu spät begreift er um den Wert der Vergänglichkeit, die er die ganze Zeit zu bekämpfen suchte. Er wird nicht von den Massen verschlungen, sondern von seiner eigenen Kunst. Das ist fucking Poesie.

Samstag, 1. September 2018

Zuletzt gesehen: August 2018

"The Firm" [US '93 | Sydney Pollack] - 4/10

"Asterix im Land der Götter" [FR '14 | Alexandre Astier & Louis Clichy] - 5/10

"The Bad Batch" [US '16 | Ana Lily Amirpour] - 4/10

"Mission: Impossible - Fallout" [US '18 | Christopher McQuarrie] - 6/10

"Anchorman 2: The Legend Continues" [US '13 | Adam McKay] - 4/10

"Mr. Deeds Goes to Town" [US '36 | Frank Capra] - 6/10

"Mr. Smith Goes to Washington" [US '39 | Frank Capra] - 7/10

"Paracelsus" [DE '43 | G. W. Pabst] - 4/10

"Resolution" [US '12 | Aaron Moorhead & Justin Benson] - 6/10

"Risky Business" [US '83 | Paul Brickman] - 6.5/10

"The Foreigner" [UK, CH, US '17 | Martin Campbell] - 4/10

"Fast Times At Ridgemont High" [US '82 | Amy Heckerling] - 5/10

"Weird Science" [US '85 | John Hughes] - 4/10

"National Lampoon's Vacation" [US '83 | Harold Ramis] - 3/10

"Caddyshack" [US '80 | Harold Ramis] - 2/10

"Gespenster" [DE '05 | Christian Petzold] - 5/10

"Nymph()maniac: Volume 2" [DK, FR, DE, UK '13 | Lars von Trier] - 5/10

"Freistatt" [DE '14 | Marc Brummund] - 2/10

"The Big Lebowski" [US '98 | Joel & Ethan Coen] - 7/10

"Without Memory" [JP '96 | Hirokazu Kore-eda] - 7/10

"Kammerflimmern" [DE '04 | Hendrik Hölzemann] - 4/10

"Fikkefuchs" [DE '17 | Jan Henrik Stahlberg] - 4/10

"Pretty Woman" [US '90 | Garry Marshall] - 7/10

"Das Parfum - Die Geschichte eines Mörders" [DE '06 | Tom Tykwer] - 5/10

"BlacKkKlansman" [US '18 | Spike Lee] - 2/10

"Okja" [KR, US '17 | Bong Joon-ho] - 5/10

"Ghost" [US '90 | Jerry Zucker] - 4/10

"Carnival of Souls" [US '62 | Herk Harvey] - 6/10

"The Cleaners" [DE, BR, NE, US '18 | Moritz Riesewick & Hans Block] - 7/10

"Die Mitte der Welt" [DE '16 | Jakob M. Erwa] - 4/10

Sonntag, 26. August 2018

"BlacKkKlansman" [US '18 | Spike Lee]

Spike Lee hat nichts verstanden. Gemäß der „just a few bad apples“-Theorie lösen sich die eigentlich tiefen, strukturellen Probleme im US-amerikanischen Polizeiapparat bei diesem in wohliger Heiterkeit auf. Gerade derjenige Kollege, der Detective Ron Stallworth (John David Washington), dem ersten farbigen Cop im Colorado Spring Police Department, andauernd mit rassistischen Anfeindungen begegnete, wird gegen Ende des Filmes mit den gebündelten Kräften aller Kollegen aus dem Verkehr gezogen. Zuvor inszeniert Lee die Atmosphäre im Polizeirevier in einer fast schon parodistisch anmutenden Szene als absolutes Toleranz-El-Dorado – da wird sich geknuddelt und geherzt als gäbe es kein Morgen mehr, nachdem die Titel-gebende Infiltration des Ku Klux Klans durch Stallworth und sein Team, darunter der jüdische Detective Flip Zimmerman (Adam Driver), erfolgreich abgeschlossen wurde. Der Weg dorthin ist selbst wenn man die ideologischen Frontlinien des Filmes kurz beiseite schiebt und sich ganz auf die Tugenden klassischen Unterhaltungskinos besinnt, erschreckend flach und tempoarm erzählt und von Lee fast durchgehend mit den erwartbaren musikalischen Einlagen beschallt.

In einer Parallelmontage zwischen den Black Panthers und einigen Kapuzen-Affen des KKK macht sich das fehlende Differenzierungsvermögen Lees besonders bemerkbar. Während die Mitglieder des Klans begeistert „The Birth of a Nation“ schauen und der Propaganda des Filmes völlig erliegen, hören die Anhänger der Black Panther- und Studenten-Bewegung einen Augenzeugen an, der die grausame Ermordung eines Freundes durch einen weißen Lynch-Mob im Jahre 1915 schildert. Die Legitimationen sind hiernach klar erteilt und das inbrünstige „Black Power!“ umso verständlicher. Dass propagandistische, vor allem an der Eskalation interessierte Kräfte auch dort an einer zunehmenden Polarisierung und Zuspitzung des Rassenkonflikts interessiert sind oder sogar die ethnopluralistischen Konzepte ihrer politischen Feinde begrüßen, tritt dabei in den Hintergrund. Eine wirkliche, kritische Distanz zur Black Panther-Bewegung wird angedeutet, steckt aber bis zum Ende des Filmes in den Kinderschuhen – und wird bisweilen sogar relativiert.

Der KKK ist derweil ein einfaches Ziel für all diejenigen, die sich einmal richtig wohl dabei fühlen möchten, sich auf der richtigen Seite zu wähnen. In der Abgrenzung zu den Schwachmaten des Klans darf jeder moralisch glänzen. Und ganz am Ende darf man sich dann nochmal richtig schön unwohl fühlen, wenn die Demonstrationen in Charlottesville gezeigt und die Themen des Filmes in der Gegenwart verortet werden. So ein bedrückendes Ende für einen doch so kauzigen Film. Charlottesville macht betroffen und schockiert, Trump sagt die Worte, die Trump eben sagt, dazu lässt sich dann kopfschüttelnd im Kinositz rotieren. Zu alledem ist angenehmerweise auch keine gedankliche Eigenleistung vonnöten, sondern man darf sich ganz seinen Emotionen hingeben – denn das ist ja auch das Kino: Emotionen! Und wenn man diese nicht dort zeigen darf, wo dann?

Alle Verfehlungen lassen sich so leicht von sich weisen, wenn man sie auf klare antagonistische Kräfte projizieren kann. Der Film unterbreitet genügend Angebote dazu und das Publikum nimmt sie mit betroffener Miene gerne an. Der Film erinnert in seiner Einfachheit an del Toros „The Shape of Water“, ohne über dessen filmästhetischen Reize zu verfügen. Aber es ist auch ein Film, der nichts bewegt, nichts anstoßen und keine Gedanken wirklich beeinflussen wird. Dazu müsste auf Seiten Lees erst einmal ein wirkliches Erkenntnisinteresse bestehen. Der Rechte fühlt sich bei „BlackkKlansman“ verarscht, der Linke darf klatschen. Und jeder ist so sehr in der eigenen identitätspolitischen Agenda verfangen, dass ein Diskurs zur Unmöglichkeit gerät. Dieser Film zeigt nur: Spike Lee hat nichts verstanden. Der Erfolg bei den Oscars dürfte ihm mit diesem durch und durch populistischen, und damit absolut zeitgemäßen Film jedoch sicher sein.