So wie dies ein Film über das Erinnern ist, und damit gegen das
Vergessen, so ist es ein Film der Gesichter. In ihren Konturen hält
sich das Versprechen versteckt, der Erinnerung irgendwie fassbar
werden zu können. Sie sind die Projektionsfläche, in ihnen finden
also die Träume, die Ängste, das Denken des Zuschauers Ausdruck.
Und sie sind schließlich des Filmemachers einzige Chance, denn sie
gewähren Einlass, sie lassen die Dinge sichtbar werden, erzählen das,
was in Worten keine angemessene Gültigkeit besitzt. Und sie grenzen
an das, was nicht ausgesprochen werden kann, weil es zu gewaltig ist
in seiner Erfahrung, aber auch in den Implikationen, die es birgt.
„Shoah“ ist also nicht zufällig ein Interview-Film geworden,
muss doch die Annäherung an nähere Geschichte auch immer über eine
tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Schicksal des Individuums
erfolgen, weil erst in diesem die Konsequenzen politischer Prozesse
sichtbar werden.
Die Stimmen der Zeitzeugen werden von Claude Lanzmann voll
ausgespielt. Der Film ist so lang, weil er sich die Zeit nimmt, all
diesen Stimmen, in den Eigenheiten der jeweiligen Sprache, aber auch
in den Eigenheiten der Sprechenden, einen Raum zu geben. Denn erst in
Stimme und Sprache finden der Schmerz und der Horror der Erfahrung zu
einem genuinen Ausdruck. Immer wieder ersticken die Stimmen in den
Gesprächen, als stießen sie auf einen unsichtbaren Widerstand;
etwas, das ihnen verbietet, weiterzusprechen, weil es zu tief führen
würde. Dort liegt das Trauma begraben. In einer Schlüsselszene
redet Lanzmann auf einen jüdischen Überlebenden ein, ein Friseur
aus Israel. Er drängt ihn dazu, weiterzusprechen, schließlich müsse
er weitersprechen, um das Vergessen zu verhindern. Der Frisur bittet
darum, ihn nicht weiter zu drängen, die Erinnerung sei zu
schmerzhaft. Schließlich lässt sich dieser doch dazu bewegen, seine
traumatischen Erinnerungen weiter zu verbalisieren, unter Tränen.
Lanzmann wird hier zum Geburtshelfer einer Erinnerung, die er durch
seine filmische Arbeit gleichzeitig in das Kollektivgedächtnis
seines Publikums überführt.
Die Gesichter der Täter sind anders als die der jüdischen Opfer
anonymisiert. Sie sind über einen zweiten, abgefilmten Bildschirm,
der ein überbelichtetes, schlecht aufgelöstes Videobild einer
versteckten Kamera zeigt, entrückt und verzerrt. Es macht die
Gesichter der Täter unwirklich und monströs und ironischerweise ist
diese Form der Repräsentation in gewisser Weise ein selbst gewähltes
Schicksal. Die meisten von ihnen möchten nicht gezeigt werden, nur
unter falschem Namen im Film auftreten. Es drängt sich natürlich
die Frage auf, wer denn nun Verantwortung übernimmt, wenn jeder nur
ein kleines Zahnrad in einem größeren System war, jeder nur auf
Befehl gehandelt und jeder nur mitgemacht. Das ist aus der
Perspektive des Zuschauers (auch als Zuschauer der Geschichte) so
frustrierend, wie es beängstigend ist, weil es einen Wesenskern des
Menschen offenbart, der alledem widerspricht, an das man glauben
möchte. Und weil auf die Fragen nie befriedigende Antworten gefunden
werden (können).
Es verbleibt ein vernichteter Glaube, restlos ausgelöscht.
Verlassen von der Welt, verlassen von der Menschheit. Lanzmann tritt
den Zeitzeugen nicht mit der moralischen Überheblichkeit
gegenwärtigen Wissens entgegen, also aus der Gewissheit eines
historischen Danach heraus, er fragt nicht nach einer moralischen
Beurteilung der Täter selbst, sondern scheint solche weitergehenden
Fragen als Nebenprodukt eines zunächst einfachen
Rekonstruktionsprozesses fragmentarischer Erinnerungen zu begreifen.
Auch hier sprechen die Gesichter, und sie sprechen zu jedem anders,
deshalb sind sie natürlich eine Projektionsfläche. Ich möchte in
den Gesichtern der Täter bisweilen Reue erkannt haben, stilles
Schuldbewusstsein, das nagt, das vor der Kamera aber nicht
ausgesprochen werden kann; denn würde es laut ausgesprochen, könnte
es Wirklichkeit werden. Die Kamera muss zur Stelle sein, wenn die
Worte nicht genügen, die Sprache an ihre Grenzen gerät. Und nichts
bleibt als der Ausdruck einer Erinnerung, die nicht erinnert werden
will.