Sonntag, 25. November 2018

Was nicht erinnert werden will - "Shoah" [FR '85 | Claude Lanzmann]

So wie dies ein Film über das Erinnern ist, und damit gegen das Vergessen, so ist es ein Film der Gesichter. In ihren Konturen hält sich das Versprechen versteckt, der Erinnerung irgendwie fassbar werden zu können. Sie sind die Projektionsfläche, in ihnen finden also die Träume, die Ängste, das Denken des Zuschauers Ausdruck. Und sie sind schließlich des Filmemachers einzige Chance, denn sie gewähren Einlass, sie lassen die Dinge sichtbar werden, erzählen das, was in Worten keine angemessene Gültigkeit besitzt. Und sie grenzen an das, was nicht ausgesprochen werden kann, weil es zu gewaltig ist in seiner Erfahrung, aber auch in den Implikationen, die es birgt. „Shoah“ ist also nicht zufällig ein Interview-Film geworden, muss doch die Annäherung an nähere Geschichte auch immer über eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Schicksal des Individuums erfolgen, weil erst in diesem die Konsequenzen politischer Prozesse sichtbar werden.

Die Stimmen der Zeitzeugen werden von Claude Lanzmann voll ausgespielt. Der Film ist so lang, weil er sich die Zeit nimmt, all diesen Stimmen, in den Eigenheiten der jeweiligen Sprache, aber auch in den Eigenheiten der Sprechenden, einen Raum zu geben. Denn erst in Stimme und Sprache finden der Schmerz und der Horror der Erfahrung zu einem genuinen Ausdruck. Immer wieder ersticken die Stimmen in den Gesprächen, als stießen sie auf einen unsichtbaren Widerstand; etwas, das ihnen verbietet, weiterzusprechen, weil es zu tief führen würde. Dort liegt das Trauma begraben. In einer Schlüsselszene redet Lanzmann auf einen jüdischen Überlebenden ein, ein Friseur aus Israel. Er drängt ihn dazu, weiterzusprechen, schließlich müsse er weitersprechen, um das Vergessen zu verhindern. Der Frisur bittet darum, ihn nicht weiter zu drängen, die Erinnerung sei zu schmerzhaft. Schließlich lässt sich dieser doch dazu bewegen, seine traumatischen Erinnerungen weiter zu verbalisieren, unter Tränen. Lanzmann wird hier zum Geburtshelfer einer Erinnerung, die er durch seine filmische Arbeit gleichzeitig in das Kollektivgedächtnis seines Publikums überführt.

Die Gesichter der Täter sind anders als die der jüdischen Opfer anonymisiert. Sie sind über einen zweiten, abgefilmten Bildschirm, der ein überbelichtetes, schlecht aufgelöstes Videobild einer versteckten Kamera zeigt, entrückt und verzerrt. Es macht die Gesichter der Täter unwirklich und monströs und ironischerweise ist diese Form der Repräsentation in gewisser Weise ein selbst gewähltes Schicksal. Die meisten von ihnen möchten nicht gezeigt werden, nur unter falschem Namen im Film auftreten. Es drängt sich natürlich die Frage auf, wer denn nun Verantwortung übernimmt, wenn jeder nur ein kleines Zahnrad in einem größeren System war, jeder nur auf Befehl gehandelt und jeder nur mitgemacht. Das ist aus der Perspektive des Zuschauers (auch als Zuschauer der Geschichte) so frustrierend, wie es beängstigend ist, weil es einen Wesenskern des Menschen offenbart, der alledem widerspricht, an das man glauben möchte. Und weil auf die Fragen nie befriedigende Antworten gefunden werden (können).

Es verbleibt ein vernichteter Glaube, restlos ausgelöscht. Verlassen von der Welt, verlassen von der Menschheit. Lanzmann tritt den Zeitzeugen nicht mit der moralischen Überheblichkeit gegenwärtigen Wissens entgegen, also aus der Gewissheit eines historischen Danach heraus, er fragt nicht nach einer moralischen Beurteilung der Täter selbst, sondern scheint solche weitergehenden Fragen als Nebenprodukt eines zunächst einfachen Rekonstruktionsprozesses fragmentarischer Erinnerungen zu begreifen. Auch hier sprechen die Gesichter, und sie sprechen zu jedem anders, deshalb sind sie natürlich eine Projektionsfläche. Ich möchte in den Gesichtern der Täter bisweilen Reue erkannt haben, stilles Schuldbewusstsein, das nagt, das vor der Kamera aber nicht ausgesprochen werden kann; denn würde es laut ausgesprochen, könnte es Wirklichkeit werden. Die Kamera muss zur Stelle sein, wenn die Worte nicht genügen, die Sprache an ihre Grenzen gerät. Und nichts bleibt als der Ausdruck einer Erinnerung, die nicht erinnert werden will.

Samstag, 10. November 2018

Vom Leben ohne Erinnerung - "Without Memory" [JP '96 | Hirokazu Kore-eda]


„I know this is a strange question but is this reality?“

„Without Memory“ gehört zu einer Reihe von dokumentarischen Filmen, die Hirokazu Kore-eda Ende der Neunziger Jahre für TV Man Union drehte – einer seit 1970 bestehenden, unabhängigen Produktionsfirma. Der Film erzählt die Geschichte von Hiroshi Sekine, der infolge einer Mangelernährung in einem Krankenhaus sein episodisches Gedächtnis verlor. An Ereignisse, die über eine Stunde zurückliegen, kann sich dieser nicht erinnern. Lediglich starke Bewusstseinszustände wie Gefühle der Angst verhaften sich bisweilen längerfristig in seinem Gedächtnis.

Der Film wird vor allem über ein narratives Voice-over erzählt, das zu Bildern aus den Privatarchiven der Familie durch die Biografie Sekines führt oder medizinische Details zu seiner Verfassung erläutert. Hier ist der Film klar in den Strukturen klassischen Fernsehen-und Dokumentarfilm-Handwerks verhaftet, indem er sich chronologisch auf einen kleinen Abschnitt in Hiroshis Leben konzentriert, ohne sich in formale Experimente zu begeben. In den Zwischenbildern und wiederkehrenden Themen wie Erinnerung und Verlust wird aber auch schon jener Kore-eda sichtbar, der mit seinen einfühlsamen Spielfilmen und zutiefst humanistischen Gesellschaftsstudien zu einem der meist renommierten japanischen Filmemacher der Gegenwart aufsteigen sollte. In seiner Themenvielfalt streift der Film dabei etliche philosophische Diskurse und stellt eine ebenso große Anzahl von Fragen.

Fragen

Wie sehr ist unsere Identität beispielsweise materiell fundiert? Und falls sie es nicht ist: wie können Körper und Geist als voneinander getrennte Größen gedacht werden? Welche Rolle spielt bei der Identitätskonstruktion die Erinnerung? Fungiert das menschliche Gehirn als leeres Gefäß, das zunehmend mit Erfahrungen gefüllt wird und ist die Summe dieser Erfahrungen dann das, was wir als das Ich wahrnehmen? Oder ist das Ich nur eine Illusion des Gehirns, das uns gleichermaßen ein Bewusstsein illusioniert, um mit der Fülle an Sinneseindrücken zurechtzukommen? Welche Rolle spielt der Andere in der Bewusstwerdung des Selbst? Existiert das Selbst in der Differenz zum Anderen oder in der Summe seiner Gemeinsamkeiten? In Kombination aus beidem?

„I always feel like this isn't the way it's supposed to be. And then I can't tell whether it's reality or my imagination.“

Hiroshis Leben ist stehengeblieben, aber er bleibt da, zum Gespenst geworden, in einer Endlosschleife gefangen, in der die eigene Situation immer wieder neu gelernt, neu akzeptiert werden muss. Die Aufzeichnungen des Kamerateams um Kore-eda sollen ihm helfen, sich zu erinnern. An einer Stelle übernimmt er selbst die Kamera, um die Gesichter und Namen des Filmteams festzuhalten. Der Speicher der Kamera, die Kamera selbst, dient hier als Erinnerungsersatz, übernimmt die Aufgaben, zu denen Hiroshis Gedächtnis nicht mehr imstande ist.  Marshall McLuhans Theorie von den „extensions of man“, wonach die Medien und die ihr zugrundeliegenden Technologien als Erweiterungen, oder gar Amputationen unseres biologischen Körpers fungieren, bekommt an dieser Stelle eine ganz bildliche Entsprechung geliefert.

„If I really exist or not. I just don't know.“

Was passiert mit dem Menschen, wenn sich das Reservoir an Erinnerungsschätzen nicht mehr füllen lässt? Hiroshi bleibt im vollen Bewusstsein seiner Behinderung, wenngleich er sie immer wieder vergisst. Er muss jedes Mal aufs Neue um die Konsequenzen seines Zustandes erfahren. Wenn das Ich die Summe aller Erfahrungen ist, also die Erinnerung der Erfahrung, was passiert dann mit dem Ich, wenn es keine neuen Erinnerungen mehr hinzufügen kann? Während die Kinder älter werden, eine neue Tochter geboren wird, verbleibt Hiroshi in der Vergangenheit, erinnert sich an jene "Version" seiner Kinder, die vor ein, zwei Jahren existierte. Erst im Gespräch mit seiner Frau, die sich über den gesamten Film hinweg mit einer schier übermenschlichen Geduld um ihren Mann kümmert, lernt er, dass die Zeit weiter vorangeschritten ist.

„My films are not the only ones concerned with memory. It's something to do with the medium itself.“ - Hirokazu Kore-eda

Die Kamera fungiert im dokumentarischen Film als Erkenntnis-Apparat. Hier fungiert diese jedoch zuvorderst als eine Art Erinnerungsmaschine, die eine subjektive Erfahrung technologisch zu fixieren versucht. Später erklärt Hiroshi, dass er sich selbst in den Aufnahmen kaum wiedererkennt. Stattdessen sei es so, als schaue er einem Fremden dabei zu, wie er mit seinen Kindern spiele: „When I see myself in pictures or in videos, I just can't recognise that person as me. I have no impression of having been there. It's like I'm watching a film made about someone other than me. I think maybe someone who looks like me is playing at being me'” - Denn es ist am Ende eben doch nur eine Kamera, die die hochkomplexe sensorische Erfahrungswelt von Hiroshi wiederzugeben versucht, Bild und Ton zu einer Einheit verschmolzen, zwei von fünf Sinnen, eine Repräsentation, in anderen Farben und anderen Auflösungsraten. Wie soll die Komplexität der Welt, geschweige denn die Komplexität sensorischer Wahrnehmung hier angemessen Ausdruck finden? Sie kann nur repräsentiert werden - abstrahiert, vereinfacht, heruntergebrochen.

"Sekine himself doesn't even recognise that he has a personality. But meeting his family proved to me that you can have an identity that depends on other people's memories. So even when you die, part of your identity will reside in others." - Im Schicksal von Hiroshi spiegeln sich die ewigen Streitfragen dokumentarischen Filmemachens wider - Fragen zum Wesen von Erinnerung, Identität, Wahrheit und Realität. Und worin besteht der Sinn von alledem? Sich in den Erinnerungen anderer Menschen zu verewigen, um im Kollektivgedächtnis einer Gesellschaft in die Ewigkeit getragen zu werden? Warum ist dieser Wunsch überhaupt da? Was kümmert uns die Welt, sobald wir diese verlassen haben? Oder ist es bloß Narzissmus, nicht einmal im Tod vergessen werden zu wollen, sondern auf ewig erinnert? Kore-eda scheint die Identität des Menschen relational zu denken. Erst im Zusammenspiel mit anderen kann sie sich formen, wachsen und erinnert werden. Die einzelnen Bauteile unseres Ichs verhaften sich in den Menschen, die uns umgeben und erst in ihrer Summe ergeben sie den Menschen in seiner Gesamtheit. Die Identität konstituiert sich also aus einer Vielzahl von Erinnerungen. Und sie wird selbst zum Gegenstand einer Erinnerung – in den Menschen, mit denen wir unser Leben teilen.  Das ist, bei aller Tragik, der Trost, den „Without Memory“ nahezulegen vermag: nicht zu verschwinden, solange man erinnert wird. Nur wofür ist man wert, erinnert zu werden?

"The halfway house of memory: an interview with Hirokazu Kore-eda.." The Free Library. 2003 CineAction 23 Aug. 2018 https://www.thefreelibrary.com/The+halfway+house+of+memory%3a+an+interview+with+Hirokazu+Kore-eda.-a099288843
Jonathan Romney, “The Memory Game,” The Guardian, 28 September 1999, https://www.theguardian.com/culture/1999/sep/28/artsfeatures2

Den gesamten Film gibt es hier online.

Sonntag, 4. November 2018

Zuletzt gesehen: Oktober 2018

"Hold the Dark" [US '18 | Jeremy Saulnier] - 5/10

"Judge Dredd" [US '95 | Danny Cannon] - 4/10

"End of Watch" [US '12 | David Ayer] - 3/10

"Phoenix" [DE '14 | Christian Petzold] - 7/10

"Mandy" [US, BL '18 | Panos Cosmatos] - 7/10

"Dirty Money" [US '18 | Season 1] - 6/10

"Psycho II" [US '83 | Richard Franklin] - 8/10

"Babylon A.D." [US '08 | Mathieu Kassovitz] - 5/10

"Kicking and Screaming" [US '95 | Noah Baumbach] - 8/10

"Young Adult" [US '11 | Jason Reitman] - 6/10

"Gerald's Game" [US '17 | Mike Flanagan] - 5/10

"Ordinary People" [US '80 | Robert Redford] - 7/10

"Schießen Sie auf den Pianisten" [FR '60 | François Truffaut] - 7/10

"22 July" [US '18 | Paul Greengrass] - 6/10

"Solo: A Star Wars Story" [US '18 | Ron Howard] - 4/10

"A Star Is Born" [US '18 | Bradley Cooper] - 6/10

"Bad Times at the El Royale" [US '18 | Drew Goddard] - 4/10

"Our Souls At Night" [US '17 | Ritesh Batra] - 5/10

"Eighth Grade" [US '18 | Bo Burnham] - 8/10

"White Girl" [US '15 | Elizabeth Wood] - 5/10

"Meet John Doe" [US '41 | Frank Capra] - 6.5/10

"The Garden of Words" [JP '13 | Makoto Shinkai] - 5/10

"Bailout: The Age of Greed" [CA '13 | Uwe Boll] - 3/10

"A Day Off" [KR '68 | Man-hui Lee] - 6/10

"Calibre" [UK '18 | Matt Palmer] - 4/10

"Apostle" [US, UK '18 | Gareth Evans] - 5/10

"Commando" [US '85 | Mark L. Lester] - 6/10

"The Night Comes for Us" [ID '18 | Timo Tjahjanto] - 4/10

"Transit" [DE '18 | Christian Petzold] - 7/10