Mittwoch, 27. November 2019

Die da oben - "The Boys" [US '19 | Season 1]


Selbst der harte Brite mit dem süffisanten Grinsen im Gesicht (Karl Urban) sitzt hier irgendwann mit dem Protagonisten auf der Parkbank und erzählt von seinen persönlichen Verlusten, den Schmerzen, die sie verursachen und dass er diesen deswegen total verstünde. Vermutlich ist das diese Charakterisierung von der immer alle erzählen und die ist immer ganz leicht daran zu erkennen, dass die Stimmen der Schauspieler ganz tief werden und der Blick glasig in der Erinnerung erweicht und filmisch ist das im Grunde immer Schuss/Gegenschuss und ich könnte jedes Mal vorspulen, wenn ich mir diese so säuberlich getrennten Dramaparts in amerikanischen Serien antun muss, um die guten Sachen sehen zu dürfen, bzw. die Dinge, die es nur dort zu sehen gibt. Zum Beispiel eine Gruppe zusammengewürfelter Jungs, die einen unzerstörbaren, unsichtbaren Superheld gefangen halten und darüber rätseln, wie sie ihn töten könnten, während eine Art Superman über die Stadt hinwegfegt und nach seinem Helden-Kollegen Ausschau hält; den Jungs geht der Kackstift, das ist nur verständlich und der Perspektivwechsel macht Spaß, wo man im Kino doch bislang stets auf der Seite der Helden stand und selten gegen ihn agieren musste. Ganz plötzlich werden so die Nachteile absolut konzentrierter Macht deutlich.

Die Spaßigkeiten dieser unkonventionellen Prämisse gestaltet "The Boys" aber leider allzu konventionell aus. Das ewige Gelaber habe ich bereits erwähnt, jedes Trauma wird sich erzählt, jede Motivation, gerade dies oder jenes zu tun, ausführlich dargelegt und besprochen, damit auch ja nichts ungesagt bleibt. Das ist dann auch immer ganz klar von den schwarzhumorigen Teilen der Serie getrennt, wenngleich man sich auch hier eher auf dem pubertären Gewalt-ist-geil-Niveau anderer Superhelden-Stoffe bewegt, die R-Rating mit Erwachsenenunterhaltung verwechseln. Die Serie hat zudem ungleich höhere Ambitionen und möchte sich offenbar darüber hinaus, oder zuvorderst, als kritische Satire auf, ja, eigentlich alles verstanden wissen, das in den USA irgendwie eine geeignete Zielscheibe abgibt. Die Superhelden-Branche ist gänzlich privatisiert, die Medien und sozialen Netzwerke dienen als nützliche Mittel zu ihrer Vermarktung, die Politik wird im Verborgenen manipuliert und die Kirche stülpt den Brands der Superhelden auch noch irgendwelche Erlöser- und Erretter-Mythen über. Überhaupt sind die Mächtigen hier alle korrumpiert und alle tragen Masken und dahinter gilt es dann das wirkliche, das - natürlich - tief böse Gesicht der vermeintlich altruistisch agierenden Superhelden zu erkennen.

Dazu gibt es dann Bilder, die man eben erwarten kann, wenn im Fernsehen über Macht erzählt wird: falsche Reden, falsches Grinsen, falsches Winken vor jubelnden Massen, während man hinter vorgehaltener Hand die Wahrheit spricht. "The Boys" ist die Serie für den Verschwörungstheoretiker, der glaubt, über eine 2 stündige Internetrecherche die Verästelungen der Macht durchschaut zu haben und sich in jedem Vorurteil über Macht und Personen der Macht bestätigt sehen darf. Gerade ästhetisch bleibt bei alledem jedoch wenig hängen, vielleicht der Schuss von Homelander (Superman), wie man ihn durch das Fenster eines Flugzeugs am dunklen Nachthimmel erblickt und dieser einem kleinem Jungen im Flugzeug zuwinkt, ehe sich seine Augen rot färben und er das Flugzeug gewaltsam vom Himmel holt. Diese Szene ist auch stellvertretend für das, was die Serie einem am besten vermittelt: die Angst der Menschen vor den Helden und ihren gottgleichen Fähigkeiten, sogar die Angst und Skepsis der Superhelden untereinander. Die Herangehensweise Snyders bei seinem großen Superhelden-Clash, nämlich die Helden ganz ernsthaft in die gegenwärtigen Machtstrukturen zu situieren, nimmt „The Boys“ wirklich ernst, findet bei Zeitlupen-Gore und cooler Musik aber zu keinen erhellenden Einsichten.  

Montag, 18. November 2019

Wellen reiten - "Das Meer war ruhig" [JP '91 | Takeshi Kitano]


Fun Fact: die Müllabfuhr hinterlässt beim Abholen des Mülls immer selbst ein bisschen Müll. Bei dieser Müllabfuhr, jedenfalls, arbeitet ein junger Mann, der nicht hört und nicht spricht, aber natürlich trotzdem erzählt. Sein Körper erzählt beim Reiten der Wellen mit seinem notdürftig reparierten Surfboard, sein Gesicht erzählt, wenn es stoisch auf den Horizont, auf das Meer ausgerichtet ist. So wie dieser Film erzählt, gerade wenn nicht gesprochen wird, wenn sich die Prozesse wiederholen und wiederholen und wiederholen, bis der Stand auf dem Board ganz fest geworden ist und jede Welle eine Einladung. Der Film genießt zudem das Privileg, von der Musik Joe Hisaishis beseelt zu werden. Erst diese lässt die Bilder melancholisch flimmern. Ich musste an den viel späteren „Paterson“ von Jarmusch denken, der konzeptionell natürlich viel klarer und ausgefuchster ist. Das hemdsärmelige, rohe, filmisch nicht immer ganz glückende von „Das Meer war ruhig“ doppelt sich interessanterweise auch in der dezenten Aufstiegsgeschichte des Protagonisten. Vielleicht ist der Film das Äquivalenz-Stück zu den Slacker- und Surfer-Filmen aus den USA, wenngleich die kulturellen Unterschiede offenkundig sind. Statt eines ziellosen Umherirrens, findet der Protagonist ja gerade zum scheinbar ersten Mal in seinem Leben zu einem Ziel und ist den gesamten Film über ganz und gar fokussiert darauf, ein besserer Surfer zu werden. Das äußert sich im Film dann darin, dass er es bis in das Halbfinale eines regionalen Surf-Wettbewerbs schafft. Das war es dann aber auch schon. Es gibt keinen dramatischen Finalsieg, keine jubelnde Menge, sondern einfach nur den deutlichen Fortschritt der eigenen Fertigkeiten und den Respekt der Surfer-Kollegen. Zum Schluss lässt Kitano nochmal alle Figuren seines Filmes ganz im Doku-Stil mit ihren Surfboards in die Kamera blicken, Joe Hisaishi und seine Musik ziehen einem Schuhe mitsamt Socken aus, dann ist der Film zu Ende. Manchmal ist es einfach ganz einfach.

Dienstag, 15. Oktober 2019

Muskeln mit Herz - "Lock Up" [US '89 | John Flynn]


Ich kann mich an den Vater meiner Mutter, meinen Opa, kaum erinnern. Er ist wohl ein lieber Mann gewesen und hat mit mir als Kleinkind sehr viel gespielt. Mit Blick auf dessen VHS-Sammlung hätte man diese Sensibilität vielleicht nicht sofort erahnt. Neben einigen Disney-Filmen für die Enkel, bestand diese nämlich fast ausschließlich aus Kriegs- und Actionfilmen der 80er und 90er Jahre. Die Cover dieser Filme haben sich mir, anders als die Titel, fest eingebrannt. Eines dieser Cover zeigte Sylvester Stallone in Handschellen, die dieser fest gespannt vor sich hielt. Die gestählten Muskeln von Stallone machten einen Glauben, er könnte die Ketten jeden Moment zum Bersten bringen.

Das Cover gehörte zum Film „Lock Up“ - und kannte man wie ich bisher nur dieses grandiose Cover, rechnete man möglicherweise mit einem raubeinigen Gefängnis-Film und erwartete Stallone als unverwüstliche Kampfmaschine, die möglicherweise eine Häftlings-Revolte anzettelt, eine Gang gründet oder was man als harter Kerl in einem Gefängnis halt sonst so macht. Doch wie so viele von Stallones Rollen, die im Nachhinein zur tumben Haudrauf-Figur umgedeutet oder schlichtweg falsch erinnert wurden, ist dessen Figur auch in diesem Film um ein vielfaches sensibler als es der Blick auf das Cover erahnen lässt. Ähnlich wie John Rambo widerfährt Stallone als Musterhäftling Frank Leone vor allem jede Menge Unrecht und jeder Gewaltakt, der von ihm ausgeht, ist eine Gegenreaktion auf die Intrigen von Gefängnisdirektor Drumgoole, der von Donald Sutherland in etwa dem selben Modus gespielt wird, in dem Lena Headey die finale Staffel „Game of Thrones“ Wein-schlürfend absolvierte. Der fiese Direktor hat jedenfalls noch eine persönliche Rechnung mit Frank offen, steht andauernd am Fenster und grinst ein wenig schräg. Die Figur lässt sich dabei als Verkörperung der Vergeltungsjustiz lesen, die in seinen ständigen Versuchen, Stallones Figur zu provozieren, die Vergeltungsfantasien in diesem zu wecken versucht, um schlussendlich das eigene, System-inhärente Handeln zu legitimieren.

In einer wunderbaren Montage restaurieren Stallone und seine Kumpels einen schicken Oldtimer, alle haben mächtig Spaß, Stallone gefällt sich in der Rolle des ruhigen, strategisch denkenden Mechanikers, den er in seiner Karriere immer wieder gegeben hat und in der „Expandables“-Reihe bewusst forcierte, aus Jux und Tollerei bespritzen sich die Jungs noch mit ein bisschen Kühlflüssigkeit und Lackierfarbe und sie gehen voll auf in dieser gemeinsamen Tätigkeit, etwas vermeintlich Ausrangiertes und Kaputtes wieder aufzubauen – das Auto also als Symbol für den Resozialisierungsgedanken.

Im Anschluss an diese Montage darf einer von Stallones Gefängnis-Kollegen (Larry Romano, der den Macho Ricky in „The King of Queens“ spielte und hier einen Macho spielt) ein paar Runden mit dem restaurierten Auto in der Werkstatt drehen, nachdem er Stallone erzählt, dass er lebenslänglich bekommen hat und nie die Chance hatte, richtig Auto fahren zu lernen. Bei ausgeschaltetem Motor schiebt Stallone also das Auto, sein Kumpel Romano darf etwas lenken üben und Stallone beginnt den Raum der Werkstatt in seiner Imagination umzugestalten. In ihren Fantasien drehen sie dann ein paar Runden über den Broadway, halten Ausschau nach heißen Bräuten und haben einfach eine gute Zeit. In diesen kurzen, prägnanten Szenen wird das Auto als Symbol extremst aufgeladen, weswegen die darauf folgenden Szenen umso beeindruckender sind. Nach einer kurzen Spritztour bis in den Innenhof des Gefängnisses wird das Auto vor den Augen der Insassen, auf direktem Befehl vom fiesen Direktor, nämlich komplett zu Klump gehauen. Und das ist ganz großartig, weil dort zum einen Männer stehen, die ein schönes Auto zerstört sehen müssen, zum anderen, weil dort auch ein Symbol aus einer Welt getilgt werden soll, in der jede Form der Resozialisierung verunmöglicht wird.

Der Film bringt Stallone immer wieder in die Position Vergeltung üben zu können, um sie dann abzulehnen. Das gipfelt in einer finalen Konfrontation, Sutherland auf dem elektrischen Stuhl, Stallone am Schalter, und kulminiert in einem Plädoyer gegen die Vergeltungslogik des US-amerikanischen Justiz-Apparats. Auffällig ist auch, wie von allen Gefängnis-Wärtern vor allem die Schwarzen zunehmend mit den Methoden des Direktors zu hadern beginnen und sich schlussendlich gegen ihn stellen. Überraschend ist das allerdings nicht, wenn man bedenkt, dass vor allem Afro-Amerikaner unter dem zunehmend privatisierten Gefängnis-System zu leiden haben.

Das alles klingt vielleicht nach einem ziemlich grandiosen Film, doch trotz dieses hochspannenden Subtextes, geht „Lock Up“ ziemlich raubeinig mit seinem Thema um. Die Fronten sind sehr schnell klar, die Figuren zügig auserzählt und die wirklich hervorstechenden Szenen nehmen nur einen Bruchteil des Filmes ein. Generell haut recht wenig wirklich rein, weder das Football-Spiel im Innenhof, noch die Schlägereien machen in Sachen Action richtig Lust, was vielleicht sogar mehr mit dem amerikanischen Actionkino in seiner Gesamtheit als mit diesem speziellen Fall zu tun hat. Stallone macht aber Spaß und atmosphärische Bilder tragen ganz gut durch den Film, dem thematisch verwandten, unsagbar hässlichen und vor allem unsagbar öden „Escape Plan“ ist „Lock Up“ sowieso jederzeit vorzuziehen.  

Sonntag, 29. September 2019

Killeraugen - "Alita: Battle Angel" [US '19 | Robert Rodriguez]


Waltz spielt das alles - mittlerweile gewohntermaßen - vollkommen planlos und gedanklich schon im Feierabend. Aber wer will es ihm verdenken, im Karriereherbst werden sich endlich die Taschen voll gemacht, der Stoff ist egal, also verschlägt es ihn abermals ins Green Screen-Wunderland und der zentrale Spielpartner kommt aus dem Computer. Dieser ist ironischerweise einer der wenigen Lichtblicke in diesem seelenlosen Film, der sich weder traut, Trash zu feiern, noch in die philosophischen Untiefen anderer Cyberpunk-Stoffe vorzustoßen. Im Gesicht von Alita spielt sich eine ganze Bandbreite von Emotionen glaubwürdig ab und in ihren Kulleraugen kann man sich, ganz im Gegensatz zu einer total anonym bleibenden Welt, zeitweise verlieren. Der Plot ist im Vergleich zur Anime-Adaption von 1993 gleich geblieben, Rodriguez und sein Team schaffen es bei der doppelten Laufzeit aber sogar doppelt so wenig Spaß zu machen. Das soll weniger fies klingen als es gemeint ist, im Grunde hatte ich mich auf jene Sorte „Alternativ-Blockbuster“ gefreut, wie es Bessons spaßiger „Valerian“ 2017 bot - was wiederum alternativer klingt als es gemeint ist. 

Donnerstag, 22. August 2019

Die Grenzen der Zivilisation - "Bone Tomahawk" [US '15 | S. Craig Zahler]


Ein Cowboy auf Krücken, ein Sheriff, ein alter Kauz, ein Revolverheld. An der Frontier, dem finalen Grenzabschnitt unerforschter Wildnis, an der das Licht der Zivilisation noch nicht jeden Schatten vertrieben hat, machen sie sich auf die Suche nach einer Gruppe Entführter und einer Damsel in Distress. Diese ist die klügste von allen, eine Medizinerin, die stoisch ihrer Arbeit nachgeht und der Zahler die schönste Zeile dieses an schönen Zeilen nicht gerade armen Filmes in den Mund legt: "This is why frontier-life is so difficult. Not because of the Indians or the elements but because of the idiots", erklärt diese entnervt aus der Zelle ihrer Entführer heraus. Das Versprechen des Manifest Destiny für einen Neuanfang in der neuen Welt, die ganze Erzählung eines schicksalshaften, humanistischen Zivilisierungs-Projektes, ist hier längst eine blasse Erinnerung geworden.

Die Realität ist ernüchternd: man droht durch kannibalische Indianer ohne Sprache und ohne Kultur mit Haut und Haaren verspeist zu werden. Der Weg zu den Kannibalen-Indianern und damit in ein grausames Schicksal ist ebenso ernüchternd. Die solidarische Mission der Gruppe ist eine einzige Tortur, ein unaufhörliches Schwitzen in dicken Klamotten, eine ewige Reiterei und Lauferei gegen die unwirtliche Mitwelt, mit kurzen Schlafphasen, die durch die ständige Bedrohung durch kriminelle Streuner-Banden nie wirklich geruhsam sind. Solchen Halunken schreibt Zahler auch die plakativsten aller Zeilen auf den Leib. Im Territorium der Kannibalen-Indianer, über die Zahler einen anderen Ureinwohner gleich zu Beginn erklären lässt, dass diese nichts mit den anderen indigenen Stämmen des Landes zu tun hätten, behauptet einer dieser raubenden und mordenden Bastarde, dass sie sich vor Indianern nicht zu fürchten hätten, da sie ja zivilisierte Männer seien – dabei kratzt er sich mit dem Revolver genüsslich im Schritt. Zivilisiertheit als Selbstzuschreibung und gleichzeitiger Abwertungsversuch des Wilden, des Anderen. Zivilisiertheit als Legitimation für koloniale Expansionsbestrebungen.

Und es stellt sich die Frage, was Zivilisiertheit denn nun tatsächlich bedeuten könnte in dieser brutalen Scheißwelt. Der Cowboy auf Krücken, überhaupt das schönste und vieldeutigste Bild in diesem an schönen Bildern eher armen Filmes, handelt aus Liebe zu seiner Frau, der Sheriff aus einem Gefühl des Pflichtbewusstseins heraus und der alte Kauz spricht andauernd vom schönen Leben, der Erinnerung an gute Zeiten und träumt davon, ein Buch in einer Badewanne lesen zu können, denn nirgends fühle er sich besser als im heißen Wasser der Badewanne. Womöglich verkörpern sie alle zivilisatorische Ideale, während der Revolverheld lediglich vom Wunsch nach Rache beseelt ist und deswegen am weitesten von ihnen entfernt liegt. Die Mittel, die sie alle gebrauchen, um ihre zivilisatorischen Ideale zu verteidigen, sind denen der Wilden dennoch ganz ähnlich. Gewalt inszeniert Zahler nicht als ein heroisches schneller-ziehen, sondern als brutalen Überlebenskampf. Der Titel-gebende Bone Tomahawk wird dabei notfalls zur eigenen Waffe, während der Wilde sich am Repetiergewehr des zivilisierten Mannes versucht. Beide Waffen töten. Lieber er als ich. Hauptsache man kommt aus der Dunkelheit der Frontier irgendwie wieder lebendig heraus – bevor sie einen gänzlich verschlungen hat.   

Freitag, 26. Juli 2019

Zeugen der eigenen Erinnerung - "True Detective" [US '19 | Season 3]


Zeitlinien, die verschmelzen, Figuren, die trauern, Figuren, die suchen, aber nicht finden können. Da sind Menschen, die alt werden und nie erlöst sind von den Schulden der Vergangenheit. Da sind Menschen, die sich schuldig gemacht haben. Die Suche einzustellen, heißt das Erinnern einzustellen, heißt zu vergessen. Erinnerung und Konzepte von Männlichkeit haben Pizzolatto seit jeher beschäftigt, sie sind wiederkehrende Themen in einer ständigen künstlerischen Selbstbefragung. Nun erweitert er diese Themen um Beobachtungen zum Alltagsrassismus in den USA. Sie treten jedoch lediglich als Begleiterscheinungen eines Kriminalfalles auf, der seine Spuren unabhängig von Hauptfarbe (und Geschlecht) in jedem Beteiligten hinterlässt.

Da gibt es dann ganz rührende Momente zweier alter, vereinsamter Männer, die sich von ihren Gefühlen erzählen, und da ist Enttäuschung, Trauer und Wut sich selbst und dem anderen gegenüber. Da gibt es das patentierte Dialogisieren im Auto vor künstlichen Rückprojektionen, die die Karre fast schweben lassen, beide sinnieren tief grummelnd über den Fall - hier schwebte „True Detective“ schon immer an der Grenze zur Albernheit. Und da gibt es Szenen einer Ehe, die überhaupt nicht albern sind, sondern die ein sukzessives Entzweien und wieder zueinander finden schildern, ohne überdramatisierte Eskalationen zu bemühen.

Ästhetisch will diese Staffel derweil nie so wirklich ein Eigenleben entwickeln, bleibt stets redselig, manchmal öde redselig, und lässt seine Bilder selten auf eigenen Füßen stehen, weil man ihrer Kraft (vielleicht zu Recht) nicht ganz vertraut. Filmisches und literarisches Denken griff in der ersten Staffel noch auf produktive Weise ineinander, setzte Synergien frei und wertete das jeweils andere auf, hier ist ein gewisser Stil erkennbar, der aber keine individuelle Handschrift sichtbar macht und die Schatten vermissen lässt, die die Geschichte beständig auf seine Figuren wirft. Aber das ist ohnehin ein Problem in diesem goldenen Serienzeitalter, das beileibe nicht nur „True Detective“ betrifft: nach der ersten Folge ästhetisch auserzählt zu sein.

Wo die zweite Staffel komplexe Verbindungen zwischen Charakteren und Milieus herstellte, ist die dritte Staffel wieder ganz auf wenige Charaktere und ihre Psychologie fokussiert. Und Pizzolatto hat sich spürbar weiterentwickelt: hinfort sind die lebensphilosophischen Einschübe seines Alter Egos Rust; stattdessen wird ein Interesse an Lebenswirklichkeiten sichtbar, die nicht der eigenen entsprechen. Das unter der Oberfläche Brodelnde der ersten Staffel ist noch da, aber ohne den okkulten Überbau. Da ist noch ein Schrecken, der nicht weichen will, eine Erinnerung, die nicht vergessen werden kann, da ist aber auch eine Liebe zwischen zwei Menschen, dem schwierigen, manischen Cop und der klugen Schriftstellerin, die nicht zerbrechen muss, um tragisch zu sein. Und da ist eine mindestens ebenso rührende Liebe zwischen zwei Männern, die der Stolz viel zu lange voneinander getrennt hielt. Vor allem sind da Gesichter, in denen man lesen möchte – und denen man bereit ist, zu verzeihen.

Dienstag, 4. Juni 2019

Schlechtes Wetter - "Godzilla: King of the Monsters" [US '19 | Michael Dougherty]


Nach Edwards klug inszeniertem Weltenbrand jetzt der Ausverkauf am Grabbeltisch. Mittlerweile will ein ganzes Pack an Titanen Godzilla an den Kragen und macht dabei den Globus zum Kriegsschauplatz. Alles ist etwas größer, alles ein bisschen teurer. Aber von der behauptet Epik ist nichts zu spüren, denn keine Sensation wird richtig verkauft und keine Enthüllung sorgsam vorbereitet. Wozu auch, sehen tut man hier sowieso nichts, ständig ist es dunkel und das Wetter schlecht. Zudem wird ausnahmslos jeder Kampf zwischen den Mostern mit dem Überlebenskampf der menschlichen Protagonisten am Boden parallelisiert. Dort wackelt die Kamera wie in einer schlechten „Bourne“-Kopie -das Resultat ist Bildmatsch mit lauter Musik. Für die Dutzend farbenfrohen, poetischen Bilder und die bisweilen wunderbar schwelgende Musik genügt ein Blick in die Trailer - viel mehr als das hat man sich nicht aufgespart. Das schlimmste sind jedoch die Figuren: die menschlichen Protagonisten und ihr tragisches Familienschicksal sind Ausgangspunkt und Zentrum des Films. Ständig müssen die drei Blassbacken ihren Verlust anderen unter die Nase reiben; selbst bei wichtigen Regierungssitzungen wird das Private über den Videochat öffentlich verhandelt. Dazu kommen Raumladungen unterbelichteter Amis, die immer nur darauf warten, den nächsten dämlichen Spruch abzulassen. Warum wer was überhaupt tut, ergibt hier ohnehin keinen Sinn. Ein Ärgernis.  

Mittwoch, 29. Mai 2019

Leuten beim schauen zuschauen - Zur Rezeption der achten Staffel „Game of Thrones“

Ausschnitt aus einem Reaction video zur finalen Episode
Seit der sechsten Staffel der Serie ist es zu einer Art Tradition für mich geworden, nach der neuesten Episode auf YouTube Reaction videos zu den zentralen Szenen der Folge zu schauen. Das heißt: ich schaue, nachdem ich die aktuelle Folge geschaut habe, noch einmal anderen, mir nicht näher bekannten Leute dabei zu, wie sie die selbe Episode schauen und darauf reagieren. So weit, so absurd. Ich kann nicht genau sagen, warum sich dieses Prozedere zu einer Tradition verfestigt hat, denn die meiste Zeit schäme ich mich für die Reaktionen der gezeigten Leute fremd. Am liebsten schaue ich die Reaction videos aus der Chicagoer Burlington Bar, in der die Gäste die Geschehnisse der Serie als public viewing gemeinsam verfolgen. Nach ein paar Videos begegnen einem dabei die immer gleichen Gesichter aus den ersten Reihen und damit sich wiederholende Muster und Modi der Rezeption.

Die Reaktionen der Zuschauer reichen dabei von großen Augen, über Tränen, aufgeplusterte Backen, facepalms bis zu euphorisierten „Whoo“ oder „Yeah“-Rufen als Kommentar auf besonders gelungene Szenen. Interessant wird es dann, wenn die Stimmung der Serie direkt auf die Bar-Gesellschaft übergreift und performativ angeeignet wird. Dann wird der Raum der Bar zu einer Art Erweiterung des fiktiven Raumes und dem neu gekrönten Monarchen wird gemeinsam mit den fiktiven Figuren der Serienwelt die Treue geschworen („To the Queen of the North!“) oder in ausufernden Party-Folgen (E04) symbolisch mit den Charakteren angestoßen. Hier reicht die Fiktion also bis in die Wirklichkeit hinein. Die Geschehnisse der Episode werden auf diese Weise nicht nur permanent beurteilt, bewertet und eingeordnet, in der Performanz der Zuschauer scheint sich in diesen Momenten auch die Sehnsucht auszudrücken, ganz in der Fiktion der Welt, seinen Figuren und Handlungen aufzugehen.

Bisweilen gleicht die Stimmung während der Sichtung einer Folge der eines Fußballspiels. Darüber hinaus werden auch strukturelle Parallelen zu einem solchen sichtbar: Wie bei einem Fußballspiel gibt es Teams (die konkurrierenden Adelshäuser von Westeros), ein Spielfeld und ein (un-)geschriebenes Regelwerk (die Welt von Westeros, die Regeln der Erbmonarchie) und wenn eine Figur eine andere ausgeschaltet hat, dann kommt dies einem Tor oder einem Punkt gleich, der einen näher an den finalen Sieg (den Eisernen Thron) bringt. Die große Kunst von „Game of Thrones“ lag nun aus meiner Sicht lange darin, dass die Serie es vermochte, den Zuschauer in die Lage zu versetzen, auch für das Tor einer eigentlich gegnerischen Mannschaft zu jubeln und über den Treffer des eigenen Teams lieber verstummen zu wollen. Die Ambivalenz, die zu diesen ebenso ambivalenten, unklaren Gefühlslagen führte, blieb bis zum Ende der Serie ein Element, erlitt aber einen deutlichen Bedeutungsverlust seit die Serienmacher mit Staffel 5 allmählich von den Vorlagen abweichen mussten.

Nun führen Ambivalenzen selten zu guten Reaction videos. Die Drehbücher der neuesten Staffeln erwecken den Eindruck, Benioff und Weiss schrieben mittlerweile eine Serie für die Leute aus der Burlington Bar. Die Ambivalenz wird dabei immer wieder dem Effekt geopfert. Zugleich sind die Szenen immer öfter auf eine möglichst gleichförmige emotionale Reaktion ausgelegt. Ein befriedigendes gemeinschaftliches Seherlebnis entsteht dann dadurch, dass alle das selbe fühlen. Wie schwer nun diese Entwicklung zum Kitsch für den Einzelnen wiegt, hängt maßgeblich von der eigenen Beziehung zur Serie ab. Buchleser, Gelegenheitsgucker und Feuilletonisten standen sich in der Rezeption der Serie immer wieder feindlich gegenüber, ohne die Form der Kritik des jeweils anderen wirklich verstehen zu wollen. Stattdessen wähnte sich jeder in seiner Zugangsweise zum Stoff auf der richtigen Seite. Wo das Feuilleton populäre Serien wie „Game of Thrones“ bisweilen nur noch zum Stichwortgeber für realpolitische oder akademische Diskurse degradiert, vergisst der Buchleser gelegentlich, welche Konsequenzen sich aus der Adaption in ein anderes Medium ergeben (müssen).

Ich persönlich versuchte mich in mehrfacher Hinsicht von zwei Seiten zu nähern, also die Serie zunächst in seinen ästhetischen und filmtechnischen Dimensionen ernst zu nehmen, ohne Fragen nach der Plausibilität und (vor allem charakterlichen) Konsistenz gänzlich ignorieren zu wollen und mich dafür nicht nur von den literarischen Vorlagen ausgehend zu nähern, sondern auch den gegenwärtigen Blockbustern, mit denen man die Serie durch ihren Event-Charakter sicherlich auch vergleichen kann. Während für die ersten vier Staffeln ein Vergleich zu den Buchvorlagen näher lag, scheint mir inzwischen ein Vergleich zu den Superhelden-Filmen des Kinos angebrachter.

Während der achten Staffel schlugen die Reaktionen zu dieser mal in die eine, mal in die andere Richtung aus. Die Vehemenz der Online geführten Debatten um den IQ der Showrunner befremdete dabei ebenso, wie die demonstrativen Gegenreaktionen derer, die die Macher vor jeder Kritik zu immunisieren versuchten. In diesem überhitzten, hysterischen Diskurs zu einer klaren Haltung zu finden, fiel mir immer schwerer. Das mag ironischerweise sogar mit einer Form der Überinformation durch das Internet zusammenhängen, in der alle möglichen Details der Staffel bereits erschöpfend diskutiert und alle möglichen Kaffeebecher und Plastikflaschen, die sich versehentlich auf das Set bzw. in die Fiktion der Serie verirrt hatten, identifiziert worden sind. Die Intensität und der schiere Umfang des Diskurses schien dabei schon lange nicht mehr durch die Komplexität des Gegenstandes gerechtfertigt. Deswegen bin ich im Moment vor allem froh darüber, dass der ganze Wahnsinn endlich ein Ende gefunden hat - und dass es noch keine Reaction videos zu Büchern gibt.

Samstag, 11. Mai 2019

Eine Ästhetik der Verschwörung - "Dark City" [US '98 | Alex Proyas]


Die Paranoia des Verschwörungstheoretikers findet in diesem Kino entkernter Realitäten ihren Platz. Hinter jeder Tür ein Abgrund, der zur Bedrohung werden könnte, hinter jeder Wand ein Hohlraum der Geheimnisse und ein Geheimbund, der sie hütet. Unter allen architektonischen Strukturen eine weitere Struktur, ein doppelter Boden, eine zweite Realität, die echte Realität, die die wahren Herrschaftsstrukturen sichtbar macht. Einen ganzen Film über die Architektur seiner Sets zu erzählen, und damit die Kunst des expressionistischen Stummfilms in die Gegenwart zu tragen, blitzt auch in "Dark City" auf, um gleichsam als faszinierende filmtheoretische Überlegung als eben solche zu verbleiben. In der Praxis muss erzählt werden – und zwar bisweilen ausschweifend. Die Set-Konstruktionen sehen nicht billig aus und das Geld muss wieder rein. Der kleinste gemeinsame Nenner verlangt Exposition, eine geleitende Hand, das Investment muss geschützt werden. Und doch durchdringt diesen eigenartigen, irgendwie außer-weltlichen Fiebertraum trotz spürbarer Studio-Interventionen auch stets eine spürbare künstlerische Vision von einer Welt, in der jede Hoffnung eine Totgeburt bleibt. Die Stadt des Filmes ist ein Niemandsland, eine Konstruktion, Pastiche, eine Verlängerung jenes Molochs, das Proyas in seiner Crow-Adaption zum ersten Mal auferstehen ließ. Die Atmosphäre ist zutiefst beunruhigend an diesem Nicht-Ort, der vom Zweifel an eine feste Realität und den damit einhergehenden Glaubensverlust langsam aufgefressen wird. Die Angst hintergangen und gesteuert zu werden, keine Kontrolle über das eigene Schicksal zu haben, das Unbehagen einer ganzen Dekade gelangt in den Häuserfassaden dieser Stadt zu einer ganz eigenen Ästhetik - einer Ästhetik der Verschwörung.

Samstag, 4. Mai 2019

Die Eingekreiste - "The Silence of the Lambs" [US '91 | Jonathan Demme]


Agent Starling steht dort, ein starker Wille in einem scheuen Blick, eingekreist. Aus einer Horde Uniformierter mit Kaffeebecher sticht sie heraus und droht doch unterzugehen. Den scheuen Blick, und den starken Willen, spielt Jodie Foster so über jeden Zweifel erhaben, dass die kurzzeitige Fokussierung des Films auf den zur Ikone gewordenen Hannibal Lecter fast schon zum Ärgernis gerät. Diesen stilisiert Demme im Mittelteil des Filmes über die Zuspitzung auf einen Twist endgültig zum faszinierenden Mastermind, dem keine Streitmacht gewachsen ist und der immer einen Ausweg zu finden scheint. Und er schwebt über Starling wie der Analytiker über dem Analysand, der Vater über dem Kind. Erst in der Schilderung von Starlings Ermittlungserfahrungen wird „The Silence of the Lambs“ spannend und lehrreich, ohne jene verklärenden Posen von der „starken Frau“, die heute nicht mehr fehlen dürfen. Starlings Blick weicht manchmal scheu zur Seite und wird dann wieder ganz klar, geradezu forsch, fokussiert. Starling darf zugleich schwach sein, Unsicherheit zeigen und sie darf sich gegen die anständigen Avancen fremder Männer spielerisch zur Wehr setzen. Starling schwitzt, Starling bricht heulend zusammen, Starling wird vor Angst fast der Kackstift in die Hose getrieben. Und beim genialischen Finale, wenn das Licht erlischt und wir sehen, was sie nicht sieht, die Kamera uns in die Perspektive des Killers zwängt, in die Rolle des Voyeurs, dann ist man ganz nah bei ihr.

Sonntag, 28. April 2019

Warum? - "Psycho" [US '98 | Gus Van Sant]


Das postmoderne amerikanische Kino der 1990er Jahre fasst vielleicht kein Filmprojekt besser zusammen als dieses. Van Sants tollkühner Versuch, Hitchcocks Slasher-Klassiker „Psycho“ von 1960 penibel rekonstruieren zu wollen, kündigte gleichsam und fast schon prophetisch die Remakes, Reboots, Prequels und Sequels von Heute an. Jede Einstellung des Meisters drehte Van Sant noch einmal, mit neuen Gesichtern, aber mit alten Cameos und mit geschmeidigen Plansequenzen, wo die Technik Hitchcocks Vision einst limitierte. Den Zeitgeist ignorierte er und bekam dabei ironischerweise einen anderen zu fassen.

Alle Kameraoperationen sind durch die immense technische Weiterentwicklung mit solcher Leichtigkeit zu realisieren, aber der Zweck, dem sie dienen sollen, ihr eigentlicher Sinn, kann nicht gestiftet werden. Van Sant entlarvt seinen Film schon früh als ernsthafte Unternehmung, statt als prinzipiell reizvolle filmtheoretische Abhandlung über Sinn und Unsinn von Neuauflagen. Statt die Unmöglichkeit eines solchen Remakes eben gerade durch die exakte 1:1-Kopie zu demonstrieren, also auch Filmfehler und technische Beschränkungen mit zu übernehmen (ganz zu schweigen vom Schwarz-Weiß), erweitert er das Original immer wieder durch eigene Bilder: vom sich verdunkelnden Himmel und der in schierer Panik geweiteten Iris von Marion Crane in der Duschmord-Szene bis zu ihrer Schwester Lila, die bei der finalen Überwältigung von Norman Bates in den alten Lumpen seiner Mutter nochmal nachtreten darf, statt wie ihre Kollegin von 1960 zur Passivität verdammt zu sein.

Solche Details deuten eine Neuinterpretation oder zumindest eine behutsame Modernisierung des Originals an – die Frauenrollen dürfen etwas mehr agieren und der ikonische Duschmord wird durch assoziative Zwischenbilder den damaligen Sehgewohnheiten angepasst. Gleichzeitig bleibt die gesamte dramaturgische Struktur des Filmes unangetastet, selbst die Autos werden vor hässlichen Rückprojektionen wieder gesteuert wie zu Zeiten des Classical Hollywood. William H. Macy muss derweil mit albernem Hut den Detektiv vergangener Dekaden mimen und ein bemitleidenswerter Vince Vaughn arbeitet sich an der herausragenden Performance von Anthony Perkins ab, der den inneren Kampf von Norman Bates um seine Identität gegen eine drakonische Mutterfigur noch in ein hypernervöses, fiebriges Spiel zu überführen vermochte. Lediglich Julianne Moore gelingt es, in all dem Unsinn auf wundersame Weise Haltung zu wahren. Als sei sie direkt vom „Boogie Nights“-Set lässig herübergeschlendert und hätte einfach nur Bock auf den Quatsch gehabt.

Vielleicht hat sich Van Sant hiermit ja tatsächlich einen nerdigen Meta-Kommentar auf die Filmkultur seiner Zeit erlaubt, wenngleich dessen Änderungen am Ursprungsstoff gänzlich anderes vermuten lassen. „Psycho“ von 1960 funktioniert noch heute, weil wir die Filmgeschichte beim Schauen des Filmes mitdenken. Er funktioniert als Zeitkapsel, die das andere Schauspiel, die andere Dramaturgie, die anderen Dialoge, sprich den gesamten filmischen Impetus seiner Zeit, auch gleichsam zum Gegenstand einer filmhistorischen Betrachtung machen. Einen über 30 Jahre alten Film Szene für Szene, Sequenz für Sequenz auf exakt gleiche Weise nachzudrehen und sich den selben durchschlagenden Erfolg zu erhoffen, wäre anzunehmen, die Welt habe sich seitdem nicht mehr verändert. Van Sant war sich dessen sicherlich bewusst. Vielleicht wäre Van Sants Erwiderung auf das „Warum?“ also lediglich ein cooles „Warum nicht?“ und „Psycho“ ist am Ende vor allem das Produkt eines jung gebliebenen, neugierigen Filmemachers, der die Erfahrung des Drehs über sein denkbar langweiliges Resultat stellte. Nur um sich am Ende nicht vorwerfen zu müssen, man habe nicht alles einmal ausprobiert.

Freitag, 19. April 2019

Opfer des Kommerz - "Psycho II" [US '83 | Richard Franklin]

 

Zunächst ein entgegen jeder Franchise- und Sequel-Logik dekonstruierender Nachfolger zum unsterblichen Hitchcock-Klassiker, der sich mit etlichen Einfällen an dessen Ikonografie und dessen ikonischer Hauptfigur abarbeitet. Der Film kann zudem, und vielmehr noch, problemlos als metafilmische Abhandlung über die Slasher-Serien seiner Zeit gelesen werden. Während Bates nach seiner vermeintlich erfolgreichen Rehabilitierung mit den Gespenstern der Vergangenheit zu ringen hat, kämpfen die antagonistischen Kräfte um Lila Loomis, Schwester der legendär ums Leben gebrachten Marion Crane, mit ihrer Tochter Mary dafür, dass dieser rückfällig wird. Um dieses Ziel zu erreichen ist ihnen jedes Mittel recht; sie beschwören die Vergangenheit herauf, indem sie Bates Mutter durch Verkleidungen und Telefonanrufe wieder auferstehen lassen. Bates soll dadurch wieder in ihren Bann geraten – und schlussendlich zum Mordversuch verleitet.

Lila und Mary übernehmen gewissermaßen die zweite Regie in diesem eigenartigen, höchst originellen Film. Sie kämpfen für einen zweiten Teil, der den Gesetzmäßigkeiten des Genres Folge leistet und Bates Reputation als Killer - nun auch in Serie! - endgültig zementieren soll. Der Film befindet sich als Konsequenz dieser Film-inhärenten Überlegungen im steten Konflikt mit sich selbst, steht zwischen der Hommage und der Kopie, zwischen Bates als Psychopath und unverhoffter Sympathieträger und letztlich sogar zwischen den Genres. Diesen Konflikt, der sonst in den Hinterzimmern der Filmstudios ausgetragen wird, zum Gravitationszentrum einer Fortsetzung zu machen, ist nicht nur hochgradig spannend, sondern auch seiner Zeit weit voraus. So viel klugen Meta-Kommentar hätte selbst Kevin Williamson nicht in ein Drehbuch verpacken können. Und so sollte dieser unglaubliche seltsame, gut gedrehte, bisweilen fast parodistisch wirkende Film auch gesehen werden – als geistiger Vorgänger zur „Scream“-Reihe und seinen nachfolgenden, postmodernen Dekonstruktionsversuchen.

Mit Norman Bates, der im Kampf um seine Vergangenheit und seine Autonomie schlussendlich den äußeren Umständen erliegt, verliert auch der Film seinen offen ausgetragenen Konflikt mit sich selbst. Er wird zum Franchise und bildet in einer atemberaubenden Schluss-Einstellung den Startschuss für zwei weitere Fortsetzungen. Das ist die eigentliche Tragik dieser Geschichte: Norman Bates darf unter keinen Umständen genesen, indem er der Einflusssphäre seiner geisterhaft präsenten Mutter entrinnt. Er muss in der Gegenwart auf ewig zerrissen sein im Konflikt mit der Vergangenheit um die Zukunft. Der Film macht klar, dass es keinen anderen Weg gibt als die vernichtende Niederlage gegen die Konvention, gegen die Kommerzialisierung und gegen die Logik des Marktes. Kurzum: Norman Bates ist dazu verdammt, auf ewig zu töten. Und mehr noch als ein Opfer seiner Mutter, muss er als Opfer des Filmgeschäfts, also des Geschäfts mit dem Film, verstanden werden.

Sonntag, 7. April 2019

Das ultimative Produkt - "The Lego Batman Movie" [US '17 | Chris McKay]

Die Universen-Politik von Marvel und DC denken die Lego-Filme konsequent zu Ende. Wo bei den Avengers auf den Kauf des Kinotickets der Kauf der Actionfigur folgt, ist die Form der Lego-Filme selbst bereits das Merchandise. Und wo die Actionfigur immer nur eine möglichst realitätsnahe Repräsentation des Helden sein kann, ist das Spielzeug bei „The Lego Batman Movie“ bereits der Held. In der ersten Dreiviertelstunde beschleunigt sich der Film dabei auf absolute Höchstgeschwindigkeiten. Das breite Referenzsystem bedient zugleich ein breites Publikum. Die Leerstellen, die die ständigen Ironisierungen hinterlassen, werden mit Familienwerten aufgefüllt, die sich gerade aufgrund ihrer so offenkundigen Abwesenheit im ursprünglichen Batman-Mythos geradezu aufdrängen. Ebenso schlüssig ist es sogar, Robin als Ersatzsohn und Albert als Ersatzvater zu interpretieren. So wirkt das obligatorische, banale Loblied auf den Wert der Familie sogar kaum angeklebt, sondern richtiggehend schlüssig. Alles abseits dieses brav-konservativen Wiederholungszwanges ist Leere in Farben, mit Kompetenz gemachte Ablenkungsmanöver, oder um es pathetisch auszudrücken: zu einem Bildersturm verdichteter Spätkapitalismus.

Dienstag, 26. März 2019

Die Abgehängten - "Dragged Across Concrete" [US '18 | S. Craig Zahler]


Der Preis für den schönsten Filmtitel des Jahres steht schon mal fest. Zugleich ist es der irreführendste: Zahlers dritter Langfilm ist nämlich kein Exploitation-Film geworden. Im Gegensatz zu „Brawl in Cell Block 99“, der seine Gewalteskapaden immer weiter komisch überhöhte, erzählt Zahler hier eher ein Gewaltdrama, das viel Zeit für seine Figuren und ihre Lebensumstände findet. Gewalt ist stattdessen, bis auf eine kurze Eskalation in einer Bank, sehr realistisch gehalten. Statt zertretender Köpfe gibt es Lungenschüsse und harte Kerle, die langsam an ihrem eigenen Blut ersticken. Und da sind zwei suspendierte Cops, gespielt von Vince Vaughn und Mel Gibson, die sitzen in ihrer Karre und sinnieren über das Abgehängt- und nicht Gewürdigt-Sein, private Krisen und Geldnöte in Zeiten von Mikroaggression und Gender-Pronomen. Zahler geht über gegenwärtige Befindlichkeiten gnadenlos hinweg und entlarvt über die abgebildeten Ambivalenzen und Widersprüche zugleich die Einfachheit identitätspolitischen Denkens. Zahler erarbeitet sich filmische Erzählungen auch nicht über funktionale Figurenschablonen. Das Zwiegespräch im Auto, die Essenz des Buddy-Cop-Films, dessen Degeneration mit Bays Bösen Jungs schon um die Jahrtausendwende zureichend vorangetrieben wurde, verleiht Zahler neue Relevanz und macht den Innenraum des Fahrzeugs zum Verhandlungsraum für Politik und Identität. Aber Achtung: der Film burnt slow und fackelt nichts richtig ab. Die Konfrontationen bleiben sehr zurückgenommen und zielgerichtet. Keine übermenschlichen Fähigkeiten oder heldenhafte Manöver sichern das Überleben, sondern Geduld, Taktik und Glück. Das Gesprochene ist substanziell, die Menschen stehen im Mittelpunkt. Wer daran interessiert ist, wird beglückt.

Donnerstag, 14. März 2019

Zurück zu Mutti - "The Sisters Brothers" [US '18 | Jacques Audiard]


Zwei Gejagte kehren heim und Mutti wartet mit der Schrotflinte im Anschlag. Sie gibt ein paar Warnschüsse ab. Es wir kurz diskutiert. Sie sollen den Rattenschwanz an Ärger, der an ihren Fersen klebt, nicht zu ihr bringen. Dann stiehlt sich doch noch ein Lächeln auf ihre Lippen und zwei Söhne, die eigentlich tot sein sollten, stehen erschöpft an ihrer Türschwelle, ein Arm verloren, ein paar seelische Narben hinzugewonnen. Und Mutti macht lecker Essen, gießt heißes Badewasser nach und macht die Betten, ganz kuschelig, ganz warm. Desplat beklimpert das alles sentimental, dann hört der Film, der eigentlich ein Western ist, aber in diesen Augenblicken keine Genre-Erwartungen zu erfüllen sucht, auf. 

In einer Welt des Fressens und Gefressen Werdens kommt Audiard plötzlich mit Menschlichkeit um die Ecke. Gerade dort, wo die Frontier an ihre Grenzen stößt und Bastarde mit schlechten Zähnen für Kohle töten und im Dreck nach Reichtum buddeln. Audiard lässt seine Figuren tatsächlich miteinander sprechen so wie Menschen bisweilen miteinander sprechen; und da sitzen keine versteinerten Mienen, keine Idealbilder, keine Ikonen mehr, sondern Männer mit Komplexen. Und er heftet sich an die dünne Firnis, die gerne Zivilisiertheit genannt wird, ohne das gnadenlose, in brutaler Nüchternheit verrichtete Tagesgeschäft zu ignorieren. Die Sisters Brothers sind keine Revolverhelden, sondern Überlebenskünstler: niedergeschossenen Kontrahenten wird zur Sicherheit noch einmal in den Kopf geschossen, und zwar ohne einen dummen Spruch, ohne übertriebene Rachegelüste. 

Wo auch immer der Western bisher schwebte, Audiard bringt ihn herunter, auf Augenhöhe; nicht im Stile der Coens, einer ironischen Roadshow gleich, und auch nicht in der Art eines artifiziellen Dialoggewitters wie es Tarantino schon seine ganze Karriere heraufbeschwört. „The Sisters Brothers“ bringt Poesie in den Western, ohne einem das Gefühl zu geben, Unangenehmes auszublenden. Und er ist detailverliebt ohne Wes Andersons Hang zu ästhetischen Neurosen. Da wird sich über eine Klospülung gefreut und unbeholfen die erste Zahnbürste angesetzt. Die Zeichen einer Moderne die schon bald im Galopp davoneilen wird, werden nicht fatalistisch gedeutet, sondern mit Neugierde inspiziert. 

Audiard ist primär an solchen Zeichen interessiert und versteht seine Figuren nicht als Motoren für Plot und anderes überbewertetes Storytelling-Gelump der Content-Generation, sondern einfach nur als Menschen. Und er lässt sie einfach sein, ein bisschen herumballern, ein bisschen nach dem großen Geld jagen, um dann pünktlich auf Muttis Türschwelle zu stehen. Eine kurze Pause vom ewigen Gereite und Geschieße, ein erleichtertes Ausatmen, eine heiße Badewanne. Eine Pause vom dem, was erwartet wird, aber nur kaputt macht. Eine Pause vom Western.

Dienstag, 12. März 2019

Starke Frauen braucht das Land - "G.I. Jane" [US '97 | Ridley Scott]


Um sich in der Männerwelt des US-Militärs durchzusetzen wird Jane einfach selber zum Mann. Ridley Scott vermählt dazu die Gleichheits-Mythen eines grandios instrumentalisierten, populistischen Feminismus mit dem spartanischen Krieger-Ideal unter amerikanischer Flagge. Feminismus bedeutet hier nicht gleiche Rechte oder gleiche Chancen, sondern absolute Gleichheit, die gerade über die menschenverachtenden Trainingsmethoden der Navy Seals - die Elite der Elite - erreicht wird. Im Kampf für das Vaterland und den Selektionsprozess des Trainings werden die Unterschiede der Geschlechter überwunden, weil die missverstandene survival-of-the-fittest-Ideologie absolute Chancengleichheit verspricht. Dass sich die Gleichheits-Behauptungen des Filmes nicht auf formaler Ebene fortsetzen, Demi Moore und ihren Körper findet Scott nämlich schon ganz geil und inszeniert ihn auch so, überrascht da wenig und übersteigt höchstwahrscheinlich auch Scotts intellektuelles Fassungsvermögen. Abseits solcher Hollywood-typischen Widersprüche wird's sogar richtig fragwürdig, wenn der Film die Folter-Methoden der Ausbilder, körperliche und sexuelle Misshandlungen härten ja vor allem ab, im ersten Kampf-Einsatz zu relativieren beginnt. Hier läuft die grausame Ausbildungserfahrung auf einen höheren Zweck hinaus und wird schlussendlich sinnhaft. Folgerichtig gilt die finale Einstellung einem wehmütigen Blick zum Ausbilder, die Augen ganz glasig, die Uniform gebügelt und die Pop-Musik im Hintergrund. - Moderne Propaganda.

Donnerstag, 28. Februar 2019

Du wurdest nicht verlassen - "Galveston" [US '18 | Mélanie Laurent]

Nach einer dekonstruierenden zweiten „True Detective“-Staffel greift Nic Pizzolatto die Motive seines gleichnamigen Romans wieder auf. Die Regie überlässt er dabei der Französin Mélanie Laurent – eine fruchtbare Kollaboration.

 
„Galveston“ vermittelt einem dieses existenzielle Gefühl des In-die-Welt-Geworfen-Seins und der Ohnmacht, darin agieren zu müssen, aber nichts nachhaltig verändern zu können. Nach "You Were Never Really Here", zu welchem einige thematische Bezugspunkte bestehen, durchzieht auch "Galveston" eine tiefe Traurigkeit über die Welt, deren Ungerechtigkeiten einen schlussendlich nur resignierend dastehen lassen. Einer Welt, die alles Schöne restlos vernichtet, steht Hauptfigur Roy (Ben Foster) ohne große Handlungsspielräume gegenüber, reagiert nur noch instinktiv auf die äußeren Reize, entgeht wie durch ein Wunder seiner Vernichtung, die er inzwischen vor allem als Erlösung denkt.

Unentwegt hinterfragt "Galveston" die Männlichkeitsideale seines Sujets. Fassbar wird die Dekonstruktion des omnipotenten Noir-Helden an der Figur von Roy, der mit Staub in der Lunge missmutig durch diesen Film stampft, grummelnd und nuschelnd versucht auf die Einwirkungen der Welt eine Antwort zu finden. Nichts an dieser Figur ist heroisch. Nichts an ihr verklärt. Ebenso wenig flüchtet sie sich in die ausgestellte Pose des Anti-Helden, den nichts mehr bewegt, weil er schon alles gesehen hat. Die sexuelle Impotenz bildet dabei lediglich eine Randnotiz, viel mehr Aufschluss gibt ein schmerzhaftes Gespräch mit der Ex-Freundin über die Unfähigkeit zur Beziehung und die Tücken subjektiver Erinnerung. Die guten Zeiten werden erinnert, als Kopie der Kopie stetig verfeinert, aber an den Rändern unscharf, alles andere ausgeschlossen. "Galveston" erzählt vielleicht gerade davon, dieses Ausgeschlossene an die Oberfläche zu spülen.

Für den Zuschauer und für Roy gibt es keine Absolution, aber auch keine klare Schuldzuweisung. Alle Träume sind dahin, die Erinnerungen als Illusionen entlarvt. Das Gute existiert an den Rändern, hat aber keine Wirkmacht in einer Welt, die von unsichtbaren Kräften dominiert wird, die alles vernichten, was sich ihnen in den Weg wirft. Roy agiert die gesamte Laufzeit über selbstzerstörerisch, macht sich selbst zum Ziel seiner Frustrationen. Die Welt von „Galveston“ legitimiert jedoch gleichwohl seine Existenz. Nur durch seine Taten darf das Schöne weiterexistieren, das Fragile vor der Zerstörung bewahrt werden (oder seine Vernichtung aufgeschoben). Das eint ihn mit Joe aus „You Were Never Really Here“. Ihre Existenzberechtigung wird nicht angezweifelt, ihre Mittel nicht hinterfragt. In einer Welt, die durch Strukturen der Gewalt zusammengehalten wird, kann nur Gewalt etwas bewirken. Es werden jedoch die Auswirkungen gezeigt, die damit einhergehen, diese Rolle ausfüllen zu müssen.

Für Ramsay und Laurent scheinen sich gerade dort interessante erzählerische Leerstellen aufzutun, die die Möglichkeit eröffnen, sich den Dirty Harrys dieser Zeit aus einer neuen Perspektive heraus zu nähern. Denn wie gesagt: Figuren wie Joe und Roy werden nicht für obsolet erklärt, nicht als Relikte enttarnt, stattdessen wird durch die porträtierten liberalen Gesellschaftsordnungen gerade die Notwendigkeit ihrer Existenz und ihres Handelns betont. Dafür wird aber auch der Preis sichtbar, den ein solches Leben fordert. Laurent blickt nicht mit Genugtuung auf Roy, zeigt ihn nicht als jämmerlichen Macho, dessen Zeit abgelaufen ist, sondern begegnet diesem mit anthropologischer Neugierde. Und am Ende darf einer, der sich von der Welt verlassen fühlte, sogar Worte der Hoffnung finden - „you have not been abandoned“.

Donnerstag, 14. Februar 2019

Was soll bloß aus den jungen Menschen werden? - "Eighth Grade" [US '18 | Bo Burnham]

Vom Aufwachsen in der Jetztzeit zu erzählen, heißt auch immer von den rapiden, technologischen Entwicklungen der vergangenen Jahre zu berichten. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich auf den Oberflächen der Smartphone- und Laptop-Displays nicht trotzdem die ewigen Fragen der Adoleszenz spiegeln würden - von der Auseinandersetzung mit den diversen Ideen vom eigenen Ich, dem Rollenspiel der Identitäten in hierarchischen Schulstrukturen oder der eigenen Vorstellung davon, wer man einmal sein möchte und damit einhergehend auch immer der Wunsch, jemand anderes sein zu dürfen. Da ist die grausame Erniedrigung durch die Natur, die Pickel, die Haare, die keimenden Brüste und die umso grausameren Blicke derjenigen, die es weniger schlimm getroffen hat und derjenigen, die mitlachen, um nicht selber ausgelacht zu werden. Bo Burnham, selber als Youtuber gestartet, ist nah dran an dieser Generation, an der Sprache, an den Apps und den neuen Ausdruckswelten, die die sozialen Medien bereitstellen. Er zeichnet aber auch zwangsläufig das Bild einer zutiefst paradoxen Gesamtgesellschaft: fette Karren, fette Häuser, fette Smartphones bebildern den ganz normalen Wahnsinn des Spätkapitalismus, eine Amoklauf-Übung in der Schule absolvieren die Schüler bereits in stoischer Routine und zwei Mitschüler, die die Titel „Mr. and Mrs. Best Eyes“ gewinnen, gratuliert Protagonistin Keyla eifrig mit „good job“.

Im Lebensalltag von Keyla drücken sich also auch kulturelle Schräglagen aus, die wiederum ganz konkret Einfluss nehmen auf ihre Adoleszenz-Erfahrungen. Die Smartphones lassen die Menschen bisweilen darin verschwinden und die Internet-Profile lassen Keyla glauben, ihr eigenes Leben sei im Vergleich weniger wert - und doch findet sie gerade auf ihrem eigenen Youtube-Kanal irgendwann zu einem wahrhaftigen, genuinen Ausdruck. Bei allen möglichen ideologiekritischen Ansatzpunkten bleibt „Eighth Grade“ stets spezifisch und ganz nah dran an seiner Hauptfigur. Keyla (Elsie Fisher) wird man nach diesen 90 Minuten liebgewonnen haben und mit ihr gelitten. In den Komplikationen des Alltags, den Hürden zwischenmenschlicher Kommunikation, in den schmerzhaften, aber zugleich Glück verheißenden Annäherungen an den Anderen, sucht Burnham nicht zuvorderst die Lacher, sondern einen gemeinsamen Nenner in den verwirrenden, ängstigenden Erfahrungen des Menschseins. Dies ermöglicht auch eine der schönsten Liebeserklärungen eines Vaters an seine Tochter, zu der das Kino überhaupt fähig ist: "You made me brave. If you could just see yourself how I see you: which is how you are, how you really are, like you've always have been, I swear to god you wouldn't be scared either.“ Burnham schaut nicht zynisch auf diese Generation, sondern hoffnungsvoll. Also voller Hoffnung.

Montag, 4. Februar 2019

Perspektiven auf den Kapitalismus - „In den Gängen“ [DE '18 | Thomas Stuber]

Der Kapitalismus (Symbolbild)

Durch Nebenjobs habe ich relativ oft in Lagerhallen gearbeitet. Lange, helle Hallen waren das, denen jeder ästhetische Reiz restlos ausgetrieben wurde. Ich empfand diese funktionalen Räume, diese Nicht-Orte, immer als trostlos und die Tätigkeiten in ihnen als furchtbar langweilig. Die meiste Zeit hatte ich jedoch Glück. Oft traf ich auf Menschen in meinem Alter, auch Studenten oder solche, die sich erinnerten einmal zehn Semester Germanistik studiert zu haben und nun in den Lagerhallen irgendeines Verlagsriesens hängengeblieben waren und Schulbücher auf Paletten stapelten; oder solche, die auf der Durchreise waren, um noch kurz etwas Kohle zu verdienen für das Work & Travel-Jahr in Australien. Für den Lebenslauf und die Lebenserfahrung und um das halbwegs solide Schulenglisch ausgerechnet bei den Aussies aufzubessern.

Und man traf jene, die schon seit Jahrzehnten dort waren – und bis zum Ende ihres Berufslebens auch nirgends anders mehr sein würden, weil es der Marktwert des eigenen (Human)Kapitals ohnehin nicht erlauben würde. Oder weniger hochgestochen: sie waren zu alt und alte Mitarbeiter lohnen nicht. Hier lag immer ein Spannungsverhältnis, denn als Student verrichtete ich Arbeit, die sich im Wesentlichen nicht sonderlich unterschied von der ihrigen. Ich schätze, es führte ihnen ihre Ersetzbarkeit vor. Für mich stand immer fest, dass ich mir lieber die Kugel geben würde als solche Arbeit mein Leben lang verrichten zu müssen. Natürlich lag in diesem Gedanken linkes Pathos und jugendliche Überheblichkeit und wahrscheinlich habe ich mich insgeheim auch immer besser gefühlt als diese Menschen. Vielleicht empfinde ich bis heute so.

Ich verspürte immer ein großes Unbehagen gegenüber der entfremdeten Arbeit; die Monotonie war unerträglich, die zermürbende, nie enden wollende Repetition, die eine Maschine so viel effektiver verrichten könnte. Aber eigentlich behagte mir vor allem ihr Sinn nicht, oder das Fehlen eines solchen, oder die systemischen Bedingungen innerhalb dessen solche Arbeit erst sinnhaft wird, sinnhaft gemacht wird. Mit meiner zunehmenden Politisierung bildete sich allmählich eine Idee davon, warum dem so war. Plötzlich ließ sich das Unbehagen meiner subjektiven Erfahrung in die Theorie überführen. Marx formulierte den Begriff der Entfremdung von der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die Ausbeutung des Proletariats, das durch seine eigenen Hände Arbeit den Abstand zur Klasse der Kapitaleigentümer beständig vergrößert. Eigentlich alter Käse also. Marx und Engels in der Theorie, Lenin und Mao in der politischen Praxis - irgendwo dazwischen die feinen Unterschiede, die Auseinandernehmer der Frankfurter Schule und die scheinbare Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis.

Während der Arbeit in den Lagerhallen dachte ich unentwegt darüber nach, wie sich meine Erfahrungen in irgendwelchen gottverlassenen Industriegebieten kreativ fruchtbar machen ließen. Ich machte mir Notizen zu Menschen, die mir begegneten und den Dingen, die sie sagten, wie sie sie sagten. Ich wollte ihr Denken ein Stück weit verstehen. Vielleicht, dachte ich, ließ sich daraus eine Kurzgeschichte gewinnen. Vielleicht könnte man sogar sagen, dass ich nach einem Weg gesucht habe, die Leute um mich herum auf eigene, nämlich kreative Weise auszubeuten, indem ich mir ihre Geschichten nahm und mich empört in ihrem proletarischen Schicksal labte. Nach der Sichtung von „In den Gängen“ bin ich mir sicher, dass ich mit dieser Idee nicht alleine war.

„In den Gängen“, basierend auf einer Kurzgeschichte von Clemens Meyer und dessen Erfahrungen als Gabelstaplerfahrer im Lager eines Großmarktes, ist möglicherweise ein Film über das Proletariat geworden. Möglicherweise ist er aber auch gänzlich unpolitisch. Vielleicht will ich, dass er politisch ist. Und vielleicht bin ich wütend darüber, dass er die Chance, politisch zu sein, nie wirklich ergreift. Das Proletariat im Film heißt natürlich nicht mehr so. Es nennt sich nicht so und wird nicht so genannt. Die Sprache hat sich schließlich gewandelt, so wie sich die proletarische Klasse gewandelt hat. Diese kann sich mittlerweile ein eigenes Auto leisten und einmal im Jahr All-Inclusive-Urlaub an der Mittelmeer-Küste, aber im Wesentlichen sind die Strukturen dieselben geblieben – nur die Abstände haben sich vergrößert und die Kapitalströme haben sich weiter verzweigt. Und es gibt neue Namen für ein altes System, das sich laufend Erneuerungs- und Transformationsprozessen unterzieht – Turbokapitalismus, Spätkapitalismus, Finanzmarkt-Kapitalismus, Plattform-Kapitalismus, Neoliberalismus. Und mit dem Neoliberalismus die tiefgreifenden Umwälzungen bestehender (Denk-)Strukturen; die Krönung kapitalistischen Denkens und ihre Ausweitung auf alle Lebensbereiche. Und doch ist „In den Gängen“ kein Film über den Neoliberalismus.

Arbeit als Befreiung

Christian, gespielt Franz Rogowski, fängt neu an im Lager eines Großmarktes. Zwischen den Regalen, also in den Gängen, sortiert er in der Getränkeabteilung Getränkekisten ein, steuert ungeschickt die Ameise, wird aber immer geschickter und nach bestandener Gabelstapler-Prüfung darf er endlich mit dem Gabelstapler durch die Gänge gleiten. Davor muss in der Gabelstapler-Fahrschule natürlich noch der Splatter-Aufklärungsfilm „Staplerfahrer Klaus“ geschaut werden – der Running Gag des Logistikers. Stuber inszeniert die ersten, eigenständigen Gabelstaplerfahrten von Christian als Erweckungserlebnis und Emanzipationsmoment. Endlich darf einer, der zur kriminellen Vergangenheit auf Abstand gehen möchte, den Erwartungen entsprechen und ein Stück weit Verantwortung übernehmen. Und doch sind diese Musikclip-haften Szenen kein Ausdruck eines unüberlegten, filmischen Affekts, dem Drang die monotone Arbeit unbedingt ästhetisch überhöhen zu müssen; stattdessen sind sie Ausdruck einer eingenommenen, erzählerischen Perspektive, eines poetischen Realismus, der Alltagsdinge durch subjektive Erfahrungswelten schildert. Der Film verläuft nämlich in einem tonalen Hochmoment, weil Christian so empfindet und ihn so imaginiert – Film also als Ausdruck innerweltlicher Befindlichkeiten.

Christian wird im Laufe seiner Probemonate von der Arbeit gänzlich verschlungen. In seiner Wohnung angekommen weiß er nichts mit sich anzufangen, wartet auf den nächsten Schichtbeginn, den kommenden Montag. Die Arbeit befremdet ihn nicht, sondern ist integraler Bestandteil seiner Resozialisierung. Sie eröffnet durch den regelmäßigen Kontakt zu den Kollegen neue soziale Welten, deren Grenzen mit der Stechuhr und dem Raum des Großmarktes sowohl räumlich, als auch zeitlich klar gezogen scheinen. Erst Bruno, gespielt von Peter Kurth, überwindet diese Grenze, indem er seine Autotür öffnet und Christian zu sich einlädt. Erst diese kleine, aber entscheidende Geste praktizierter Menschlichkeit erlaubt es Christian, sich den toxischen sozialen Verbindungen der Vergangenheit zu entziehen. Daneben mäandert die komplizierte Beziehung zu Marion aus der Süßwarenabteilung, gespielt von Sandra Hüller. Der Gedanke an sie raubt Christian die Nächte.

Die Unverbindlichkeit ihrer Beziehung quält ihn, sie ist verheiratet, aber immer öfter unglücklich, ihr Mann behandelt sie schlecht, er wäre so viel besser für sie. Obwohl Arbeitsplatz und privater Raum so klar voneinander abgegrenzt scheinen sind sie es doch nicht. Zwischen den Regalen wird getuschelt, die neuesten Gerüchte ausgetauscht. Die Menschen nehmen Anteil aneinander, es werden sogar familienähnliche Strukturen sichtbar. Durch die Selbstbezeichnung als kleine Familie und Rituale wie der Weihnachtsfeier versuchen sich Christian und seine Kollegen aus der namenlosen, gesichtslosen Masse der Belegschaft herauszulösen und gleichsam als Subjekte neu zu konstituieren.

Auf der Weihnachtsfeier wird derweil Grillfleisch und Bier serviert, dessen Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist und in der Logik der Wegwerfgesellschaft auf den Müll gehört. Ein System, das die Obsoleszenz von Produkten planen muss, lässt einen die Stirn runzeln. Christian und seinen Kollegen aber bleibt nichts als ein resigniertes Schulterzucken; sie nehmen sich von den Bergen weggeworfener Lebensmittel so viel, wie sie essen können und machen sich die Taschen voll. Das ist natürlich verboten - Unternehmensvorschrift.

Und doch porträtiert „In den Gängen“ kein Proletariat der angehenden Revoluzzer. Das Proletariat ist träge, angekommen, sesshaft geworden, hat sich mit den Umständen des Systems arrangiert. Den Zwängen des Systems können sie nicht entgehen, aber wenn sie nicht zappeln, sind die Fesseln weniger spürbar. Stuber formuliert ihnen jedoch keinen Vorwurf daraus, schaut nicht verächtlich auf sie herab, sondern bringt ihnen Verständnis entgegen. Denn für Christian ist die Arbeit nicht quälend, nicht entfremdend, sondern tröstend. In den geregelten Bahnen seiner Beschäftigung findet er Halt, und in den Menschen, die ihn umgeben. Möglicherweise muss die Frage gestellt werden, ob dieser wegen oder trotz der systemischen Umstände so viel Gutes aus seiner Arbeit in den Gängen des Großmarktes zu ziehen vermag. Stuber inszeniert diesen Film mit solidarischen Gesten, aber verzichtet auf politische Radikalität. Mit der proletarischen Klasse zeigt er sich mitfühlend, aber er zeigt keine Handlungsspielräume auf, durch die sich ihre Bedingungen verbessern ließen.

Nach Brunos Selbsttötung sitzt der Schock tief, aber das Leben muss weitergehen. Seinen Kollegen erzählte er, dass er eine Frau hat, tatsächlich ist er in den eigenen vier Wänden zunehmend vereinsamt. Er muss erkennen, dass am Grund des Bierglases nichts liegt außer dem Warten auf eine Zukunft, die immer Idee bleibt und nie Wirklichkeit wird. Statt des Wartens wählt er das Ende. Hier tun sich individuelle Schicksale auf, denen der Film mit aufrichtigem Mitgefühl begegnet. Aber er kann ihre Miesere nicht beenden, weil er sie selbst kaum erkennt. Mehr noch: das Mitleid verhindert gar eine radikalere, nämlich systemische Kritik. Die Welt, so scheint es zu klingen, ist so, wie sie ist, aber angesichts ihrer überwältigenden Komplexität, ihrer überwältigenden Ungerechtigkeit, stehen wir am Ende hoffnungslos da – und jeder für sich allein. „In den Gängen“ ist kein politischer Film, sondern ein menschlicher – das ist womöglich das verheerende.

Montag, 14. Januar 2019

Die letzte Einstellung aus "Private Life" [US '18 | Tamara Jenkins]


Rachel (Kathryn Hahn) und Richard (Paul Giamatti) sitzen gemeinsam auf einer Bank in einem Diner. Sie warten. Sie warten solange bis der Lauftext des Abspanns über ihre Gesichter hinweg zu laufen beginnt. Sie halten einander die Hände, der Blick gespannt zur Eingangstür gerichtet. Das Warten betrifft dabei nur auf der ersten Ebene das auf eine Person. Auch die Angst in ihren Blicken geht weit über die Befürchtungen hinaus, diese Person könnte nicht kommen. Die Szene ist viel radikaler als das. Die Radikalität liegt in den Widersprüchen, die das Arrangement der Szene und die Gesten ihrer Figuren offenbaren. Sie hinterlassen eine Leerstelle. Richard setzt sich zu ihr, nimmt ihre Hand, sie lächelt. Durch die Funktion der Szene als Rückgriff auf eine ganz ähnliche früher im Film (dort warteten sie vergeblich auf eine im Internet gefundene Leihmutter) entsteht ein Kontrast, der zugleich eine charakterliche Fortentwicklung anzeigen soll. Richard handelt im Kontrast zum ersten Mal im Diner, signalisiert zärtlich Zuneigung und Zusammengehörigkeit, indem er sich zu ihr setzt, ihre Hand ergreift. Ihr Lächeln belohnt sein Handeln. Gemeinsam gehen sie um mit Zurückweisung und Enttäuschung, verhalten sich zu ihr – allen Rückschlägen, jeder Scheiße, die das Leben zu werfen bereithält, zum Trotz. Und doch liegt da noch etwas anderes in ihrem Blick; etwas, das weit darüber hinaus weist. Denn von diesem wartenden Pärchen geht allen demonstrativen Zeichen zum Trotz keine Geschlossenheit aus, kein Zusammenhalt. Am Ende des Filmes steht keine unzertrennliche Einheit, ebenso wenig wie ein pragmatischer Lebensbund. Sichtbar werden stattdessen zwei Menschen, die für sich genommen einsam sind. Und da ist nicht die Angst, dass dieser jemand nicht kommen könnte, sondern dass einfach nichts mehr kommt, oder nie etwas, irgendetwas, da war. Ihr Begehren ist beständig wirksam, es trennt sie, eint sie, lässt sich aber nie endgültig befriedigen. Es gebraucht keiner großen Fantasie, um für sich selber eine Heimat in diesen verlorenen Blicken zu finden und in all den kaum auszuhaltenden Widersprüchen, die sie ausdrücken sollen. Sie sitzen dort als Getriebene, nämlich als Menschen. Ich sitze dort, und kann ihrem Blick nicht entgehen.