Dienstag, 28. Januar 2020

Mittelklasse - "The Commuter" [US '18 | Jaume Collet-Serra]

An der Stelle des Films könnte man noch denken: "Joar, nicht uninteressant."
Vorsicht: das ist die Falle!
Ein Mittelklasse-Film über die Mittelklasse für die Mittelklasse. Neeson beschützt nun auch schon seit Jahrzehnten seine Familie vor verschwörerischen Kreisen, denn wer Familie sagt, macht sich keine Feinde. Jetzt zeigt er zusätzlich dazu einem Goldman Sachs-Trader den Mittelfinger, denn wer „die da oben“ sagt, klingt kritisch und ist doch vollkommen beliebig dabei. Die Mittelklasse erweist sich zudem als perfektes Zielpublikum. Selbst derjenige, der sich faktisch nicht hinzuzählen kann, fühlt doch zumindest eine geistige Verbundenheit und versucht ökonomisch Anschluss zu finden. „Commuter“ ist ein Film für Leute, die mit dem Geländewagen vor dem Multiplex vorfahren und sich beim Mittelklasse-Kitsch von Neeson dennoch verstanden fühlen. Dabei ist das alles auch noch so gut besetzt, dass man manchmal vergisst, wie billig das Ganze ist. Daran erinnert einen dann Collet-Serra, der CGI-Tricks mit Action verwechselt. Ich muss aufhören, seine Filme zu schauen.

Sonntag, 19. Januar 2020

Julia Roberts - "My Best Friend's Wedding" [US '97 | P. J. Hogan]


Julia Roberts ist von einem anderen Stern. Wie sie dort steht, mit dem festen Schritt und dem Blick, fest auf ihn gerichtet. Wie sie strahlt, auch wenn sie weint. Wie sie strahlt, wenn sie ein herzliches Lachen imitiert. Denn das kann niemand so gut wie sie. Sie strahlt bis in die hintersten Sitzreihen hinein, erhellt die finstersten Ecken und Winkel, in die sich der Zyniker gerne zurückzieht, um nicht erhellt zu werden. Gleichzeitig fühlt man sich auf intimste Weise mit ihr und ihrem Schicksal verbunden. Das ist auch das Unheimliche an einer großen Schauspielerin wie sie eine ist. Wir möchten ihr alles glauben, wissen aber um die Illusion des Kinos, die sie uns vergessen macht. Und kaum jemand belügt uns so charmant wie sie. In einer Szene tuckert sie mit ihrem besten Freund (er heiratet in wenigen Tagen eine andere, sie ist nach wie vor in ihn verliebt) auf einem Fährschiff einen Fluss hinunter. Die Kamera muss für diese Szene überhaupt nicht viel machen, sie nimmt die Darsteller lediglich in die Nahaufnahme und lässt die Stadt im Hintergrund vorbeiziehen - die Szenerie ist bereits hinreißend genug. Die Musik glaubt in diesem Moment große Gefühle evozieren zu müssen, schwillt an und ab, dabei sind alle Zutaten längst beisammen, alle Dinge von Bedeutung, die diese Szene vermitteln soll, ganz deutlich erkenn- und spürbar, in die Gesichter eingeschrieben, den Worten konnotiert.

Kurz vor der Hochzeit hinterfragt er seine Entscheidung, wagt mit ihr einen Blick zurück auf ihre frühere Beziehung. Es ist der perfekte Augenblick für sie, ihm ihre Liebe zu gestehen - im Moment seines Zweifelns. Doch sie schweigt und der Augenblick zieht vorüber. Mit ihnen verstummt die Musik. Ihr Freund beginnt zu singen, ihren Song, den alten, „The Way You Look Tonight“ von Tony Bennett. Und Mensch, könnte das kitschig sein. Doch die Reduktion der Geräuschkulisse, die Farbpalette, die fehlenden Weichzeichner machen das fast schon zu einer Verschmelzung von Classical und New Hollywood; klassisch in seinem Sentiment, im Drang, in der Musik den absoluten Ausdruck zu finden (heute wird viel zu wenig gesungen), aber geerdet in seiner filmischen, seiner ästhetischen Haltung. Es ist jener Augenblick unerfüllter Sehnsucht, die im Gesicht von Roberts einen Ausdruck findet, ohne sich in einer großen Geste verraten zu wollen. Es ist nur eine Träne, die sich augenblicklich wieder aus dem Gesicht gewischt wird, um die Illusion aufrecht zu erhalten. Dann lächelt sie wieder und erhellt damit jeden finsteren Winkel - auch wenn sie eigentlich weinen möchte. Ja, gerade dann strahlt sie am hellsten.

„Some day, when I'm awfully low
When the world is cold
I will feel a glow just thinking of you“

Mittwoch, 15. Januar 2020

Jahresrückblick 2019

Kurze Geschichte kurz: ich kam nicht mehr in meinen Google-Account hinein, jetzt bin ich wieder drin, deswegen gibt es jetzt einen Jahresrückblick. Es war schön. Qualität und Quantität haben in meinem Filmjahr geheiratet und das sind die wunderschönen Babys. Viel Vergnügen.

„Porträt einer jungen Frau in Flammen“ 
von Céline Sciamma 


Muss ich ein zweites Mal sehen. Mein Kopf war da, mein Herz blieb stumm. Manchmal ist das so. Ähnlich wie bei „Phantom Thread“ scheint dies ein Film zu sein, der mit jeder Sichtung wächst, der sich immer wieder befragen und untersuchen lässt und der einen doch immer wieder an einen anderen Punkt führt. PS: Vivaldi ging mir nie näher.

„Systemsprenger“ 
von Nora Fingscheidt 


Die kaum zähmbare Hauptfigur findet auch in der Form des Films Ausdruck. Trotz der Dokumentarfilm-Vergangenheit der Regisseurin geht diese extrem gestalterisch mit dem Material um und führt damit im besten Sinne zu einem auslaugenden, anstrengenden Filmerlebnis. In meiner Kino-Vorstellung konnte es sich eine gewisse Dame nicht verkneifen, den gesamten Film pädagogisch kommentierend zu begleiten - ich verlange die Höchststrafe!

„John Wick: Chapter 3 - Parabellum“ 
von Chad Stahelski 


Wenn Waffen und Körper zum Tanz bitten, möchte man nicht stillsitzen. Eines der schönsten Kinoerlebnisse überhaupt.

„Shoplifters“ 
von Hirokazu Kore-eda 


Nicht dieses Jahr, schon klar, aber Ende letzten Jahres erschienen, deswegen hier drin. In einer Szene ist die Familie am Strand, der Vater mit dem Sohn im Wasser und klärt diesen über Sexualität auf. Schöner, unaufgeregter, beiläufiger, lässiger geht es einfach nicht.

„Marriage Story“ 
von Noah Baumbach


„Typisches Oscar-Material“ ist erstmal überhaupt keine ernstzunehmende Kategorie von Kritik. Baumbach ist nicht nur ein sehr guter Autor, sondern auch ein sehr eleganter Filmemacher. Er ist auch nicht der neue Woody Allen, sondern einfach besser als dieser je war. Die „Blick-Regie“ wenn die beiden Parteien das Tor zum Grundstück zuschieben, die juristische Verhandlung, die von der Essensbestellung unterbrochen wird, die versehentliche Schnittverletzung, das Lesen eines Briefs, das Singen eines Liedes – mit den Lieblingsmomenten hätte ich den Film nacherzählt.

„Upgrade“ 
von Leigh Whannell 


Zugegeben, Whannell hat sich nach „Insidious: Chapter 3“ (ohne den Film gesehen zu haben) vermutlich nicht sofort verdächtig dafür gemacht, mal auf irgendjemandes Bestenliste für irgendwas zu landen. Aber es ist passiert. Nach dem tollen „The Invitation“ beweist Hauptdarsteller Logan Marshall-Green ein weiteres Mal ein sehr gutes Händchen für kleine Genre-Perlen und läuft seinem Look-alike Tom Hardy mittlerweile fast schon den Rang ab. Über den Film möchte ich überhaupt nichts verraten. Nur so viel: er ist gut.

„Dragged Across Concrete“ 
von S. Craig Zahler 


„Der Preis für den schönsten Filmtitel des Jahres steht schon mal fest.“ […]

„The Sisters Brothers"
 von Jacques Audiard 


„Eine kurze Pause vom ewigen Gereite und Geschieße, ein erleichtertes Ausatmen, eine heiße Badewanne. Eine Pause vom dem, was erwartet wird, aber nur kaputt macht. Eine Pause vom Western.“ […]

„Parasite“ 
von Bong Joon-ho

 
Selten einen so konzentrierten Film gesehen, der der konkreten künstlerischen Vision seines Machers derart nahezukommen scheint. Vor allem beweist Bong Joon-ho, dass die vermeintlichen Gräben zwischen Genre, Mainstream und Kunstkino nichts als selbst-induzierte Illusionen sind. „Parasite“ wird überall gefeiert, völlig zu Recht.

„Galveston“ 
von Mélanie Laurent


Die arme Laurent hat vergangenes Jahr nicht nur die heiße Mieze für Chauvi Michael Bay geben müssen, sie durfte auch diese sehr traurige, sehr tolle Romanverfilmung drehen. --->

„Eighth Grade“ 
von Bo Burnham 


„In den Komplikationen des Alltags, den Hürden zwischenmenschlicher Kommunikation, in den schmerzhaften, aber zugleich Glück verheißenden Annäherungen an den Anderen, sucht Burnham nicht zuvorderst die Lacher, sondern einen gemeinsamen Nenner in den verwirrenden, ängstigenden Erfahrungen des Menschseins.“ […]

„Ad Astra“ 
von James Gray 


Brad Pitt in einer seiner besten Rollen. Kleine Kritik kommt noch.


Bitte nicht vergessen (erweiterter Kreis)
„Border“ von Ali Abbasi
„American Factory“ von Steven Bognar & Julia Reichert
„Midsommar“ von Ari Aster
„The Lighthouse“ von Robert Eggers
„The Irishman“ von Martin Scorsese
„Psychobitch“ von Martin Lund
„Once upon a Time … in Hollywood“ von Quentin Tarantino
„Amazing Grace“ von Alan Elliott & Sydney Pollack
„Climax“ von Gaspar Noé
„The Favourite“ von Yorgos Lanthimos
„Asche ist reines Weiß“ von Jia Zhangke