Sonntag, 28. Oktober 2018

Es ist nicht der Kapitalismus, es sind die Menschen! - "Mr. Deeds Goes to Town" [US '36 | Frank Capra]


Gestatten: Mr. Deeds (Gary Cooper). Ein bodenständiger, junger Mann vom Land. Ein anständiger Kerl. Die Zeiten sind hart, aber Mr. Deeds begegnet ihnen mit dem ungebrochenen Optimismus eines Idealisten, der bei allen Anstrengungen des (Über-)Lebens in der wirtschaftlichen Krise die Freude am Dasein nicht verlernt hat. Tuba-spielend begleitet er seine eigene Abschiedsfeier aus dem heimatlichen Nest, das er verlässt, nachdem ihn eine Gruppe Anwälte darüber unterrichtet, dass er alleiniger Erbe eines Vermögens geworden ist - zwanzig Millionen Dollar warten auf ihn. Das Geld führt ihn in die Stadt, jenen urbanen Raum, der in Capra-Filmen bestenfalls Unheil und schlimmstenfalls Verderben bedeutet. Das Verderben deutet sich an, nachdem Mr. Deeds erkennen muss, in welch korrumpierten, menschlichen Sumpf er gestolpert ist. Die Presse zerreißt jeden seiner öffentlichen Auftritte und nach einem gemeinsamen Abendessen zeigt er sich enttäuscht von der künstlerischen Elite der Stadt, die für seine Gedichte nichts als beißenden Sarkasmus übrig hat. Mit ein paar kräftigen Kinnhaken versucht er ihnen die Arroganz aus dem Leib zu prügeln.

Denn auch das ist ein Markenzeichen des kleinen Mannes aus Capras „Little-Men“-Trilogie: wenn Sprache und Institutionen Gewalt ausüben können, dann können es die guten, alten Fäuste erst recht; und wenn man auch kein Intellektueller ist, so gelangt man doch mit ganz eigenen Worten zu profunden Einsichten über das menschliche Miteinander. Mit der Zeit wirkt der (bisweilen seltsam geartete) Humanismus von Mr. Deeds entwaffnend auf das elitäre Umfeld, in das er geworfen worden ist. Louise (Jean Arthur), die zynische Reporterin, die ihm nachspionieren und auf seine Kosten Schlagzeilen produzieren soll, verliebt sich in ihn. Der Zynismus verliert bei ihm seine Strahlkraft. „And I got to thinkin' about what Thoreau said: "They created a lot of grand palaces here, but they forgot to create the noblemen to put in them"“ bedauert Mr. Deeds in einer Szene. Mit den Nobleman ist natürlich auch er selbst gemeint.

In einer Schlüsselszene wird Mr. Deeds in seiner Villa von einem Farmer mit einem Revolver bedroht, ein Sinnbild für die Verlierer der Great Depression. Dieser macht Mr. Deeds als Repräsentant der vermögenden Elite für seine persönliche Misere mitverantwortlich. Mr. Deeds erkennt allmählich, dass er in die Lage versetzt wurde, über die Ressourcen der Elite zu verfügen, ohne ihrer Klasse im sozialen Sinne anzugehören. Eine der Chance, die diese Lage birgt, ist aus ihr heraus für gesellschaftliche Gerechtigkeit einzustehen und das eigene Vermögen zur Schaffung eines Friedens zwischen den Klassen wirksam zu machen. Er beginnt damit, den Arbeitslosen der Stadt die Papiere für eine 10 Hektar große Farm auszustellen, wenn diese sich im Gegenzug dazu bereit erklären, diese für mindestens drei Jahre zu bewirtschaften. Er erkennt also, dass die einen zu viel haben und die anderen zu wenig. Und er erkennt die Verantwortung an, die deswegen jenen zukommt, die im freien Wettbewerb am Ende als Gewinner dastehen. Er beginnt gewissermaßen damit, seine eigene New-Deal-Politik zu betreiben, angeleitet von der Idee der agrarian ideals.

Trotz alledem ist Mr. Deeds jedoch alles andere als ein linker Revoluzzer; er ist nicht einmal wirklich kritisch gegenüber dem Kapitalismus und seinen Auswüchsen, sondern möchte die Ungerechtigkeiten, die im kapitalistischen Wirtschaftssystem nichtsdestotrotz entstehen, über einen tugendhaften Individualismus zivilisieren. Das bedeutet: der Einzelne muss das Richtige tun. Und das Problem ist nicht der große Reichtum, sondern nur, wie der Reiche mit ihm umgeht. Mr. Deeds propagiert damit eine Art solidarischen Kapitalismus nach dem Vorbild Andrew Carnegies, welcher als einer der reichsten Männer der Weltgeschichte damit begann, seinen Reichtum über gemeinnützige Projekte an die Gemeinschaft zurückzuführen. Die Kritik am Kapitalismus, die in der Prämisse der Erzählung schlummert, sowie die Kritik an der Elite, die Mr. Deeds sichtlich befremdet, werden auf einen wirtschaftsliberalen Grundappell heruntergebrochen. Systemische Fragen werden nicht weiter verfolgt dort, wo das System nicht das Problem ist, sondern immer nur der Einzelne, der darin agiert. Kurzum: Wenn jeder wie Mr. Deeds wäre, wäre die Welt ein besserer Ort. Und das Leben im Konjunktiv wäre ein schönes, wäre es nicht im Konjunktiv.

Sonntag, 21. Oktober 2018

Die Liebe ist ein seltsames Spiel - "Phantom Thread" [US '17 | Paul Thomas Anderson]

Er ist der Künstler. Sie ist die Welt. Sie ist der Bezugspunkt der Kunst, der Ursprung der Inspiration. Die herausfordernde Melange besteht darin, zwischen den eruptiven Rauschzuständen, der wunderbaren Leichtigkeit der Improvisation mit der Welt und den kontrollierten Rahmenbedingungen des Kunstschaffens einen annehmbaren Kompromiss auszuhandeln. Und die Welt dabei nicht zu verlieren in ihrer an sich seienden Form, oder zumindest in einer Form, die nicht gänzlich im Sinne des Künstler-Blickes umgestaltet und verformt worden ist, indem sie vermessen, bürokratisiert, kategorisiert wurde. Es gilt die Wahrhaftigkeit nicht zu verlieren, sondern sie ins Artifizielle zu überführen. Das heißt sie nicht zu zerstören im Prozess, sondern sie zu veredeln. Dann wohnen der Kunst sogar transformatorische Kräfte inne: "In his work I become perfect." „Phantom Thread“ ist perfekt. Und Anderson muss sich schon lange nicht mehr ehrfürchtig verbeugen vor den Größen der Vergangenheit. Er erzählt eine universelle Geschichte, die doch ganz spezifisch ist in der Ausgestaltung seiner Figuren und ihren Eigenheiten. Zugleich ist dies eine wunderbare Liebesgeschichte über eine Liebe, die wirklich die gesamte Laufzeit braucht, um beidseitig entstehen und beidseitig akzeptiert werden zu können.

Er ist umrandet von Opportunisten, Mäzenen, Verehrern, Anhängseln, ökonomischen Notwendigkeiten; bis sie sein Leben streift und die ungebrochene Lebensfreude auch dann nicht verliert, wenn er sie einzuhegen, zu domestizieren versucht. Schon am ersten gemeinsamen Abend macht er sie zum Gegenstand seiner Kunst, er vergegenständlicht das Subjekt, weil es sich seiner Kontrolle und den prüfenden Blicken seiner Bürokraten (Lesley Manville) hier nicht entziehen kann. Aber sie ist nicht das Opfer. Sie ist gleichermaßen fasziniert von dem, was er in ihr sieht. Sein Blick ist sinnstiftend. Und der Film bricht die etablierte Asymmetrie der Beziehung sukzessive auf. Liebe entsteht hier an den Punkten des Widerstandes, der Reibung, nicht in der Dominanz, im Sieg des einen über den anderen. Stattdessen gilt es die Macken, die seltsamen Angewohnheiten, den Fetisch und die Idiosynkrasien des anderen in all seinem Menschsein anzunehmen und aus dem Kampf gegeneinander, für die gemeinsame Sache, einen Lustgewinn zu generieren. Der Film endet in einem Happy Ending, denn Zynismus war eigentlich nie Andersons Sache. Er lernt die Kontrolle abzugeben, sie zähmt ihn, kanalisiert sein Genie. Und sie darf in seiner Kunst so etwas wie Sinn erfahren.

Freitag, 12. Oktober 2018

Die eigene Schaulust - "22 July" [US '18 | Paul Greengrass]

Mit „22 July“ liefert „Based on true Events“-Spezialist Paul Greengrass so ziemlich genau das, was von ihm im Vorfeld zu erwarten war: gut funktionierende Handkamera-Bilder im Nah-dran- und Mittendrin-Modus, ein rhythmisierender Schnitt und gut geführte Schauspieler lassen den Terroranschlag auf Utøya und Oslos Regierungsbezirk im Jahre 2011 aus der allerersten Reihe fast in Echtzeit mitverfolgen. Der Fokus liegt dabei gleichermaßen auf Breivik, wie auf einer kleinen Gruppe von Überlebenden, was mancherorts zu empörten Reaktionen führte. Die Opfer der Anschläge würden vor allem als anonyme Masse porträtiert, Breivik zu viel Plattform gegeben. Solche Stimmen zeichneten sich vor allem durch eine inzwischen obligatorisch gewordene moralische Überheblichkeit aus. Stattdessen sollte sich im Umgang mit Filmen wie „22 July“ mal ehrlich gemacht und die eigene moralische Scheinheiligkeit abgelegt werden: Ich schaue Filme wie diese selbstverständlich aus Schaulust und Sensationsgier – und ich bezweifle, dass ich damit alleine bin. Statt des Gaffens am Straßenrand darf sich bei filmischen Rekonstruktionen realer Begebenheiten allerdings noch schön in die Decke eingemummelt werden und das ganze Grauen, das ist irgendwie so ähnlich tatsächlich irgendwo passiert, aus nächster Nähe (und doch aus sicherer Distanz) bestaunt werden. Und die Faszination geht natürlich vom Täter aus und weniger von den Opfern, weswegen Greengrass Interesse an diesem vor allem aufrichtig ist.

Das Grauen, die Zuspitzungen menschlichen Verhaltens, üben eine ungebrochene Anziehungskraft aus. Horrorfilme funktionieren (auch) nach genau diesem Prinzip: dem Grauen, im Film sichtbar gemacht, in die Augen blicken. Nun bedient sich Greengrass am Grauen der Welt und es drängt sich die Frage auf, wo nun die Fiktion liegt – wo sie beginnt und wo sie aufhört. Wo beschreitet ein Film, der sich konkret auf reale Begebenheiten bezieht, die moralische Trennlinie zwischen geschmackvoller und geschmackloser Unterhaltung? Jeder Filmemacher bezieht sich auf die Welt, die er in einer Repräsentation wieder zusammensetzt, wie offenkundig muss der Bezug zur Realität also sein, um den Filmemacher in die Lage besonderer Verantwortung zu versetzen? Das Fehlen einer klaren Antwort auf solcherlei Fragen macht nur das ganze Ausmaß der moralischen Scheinheiligkeit sichtbar, mit der sich im kritischen Umgang mit solchen Filmen geschmückt werden soll, ohne sich das Nacherleben der Tragödie entgehen lassen zu müssen. Erst sabbernd über zwei Stunden in den Zügen eines Massenmörders nach einer Regung suchen und dann die fehlende Sensibilität Greengrass zu kritisieren, ist maximaler Selbstbetrug. Die Schaulust ist eine zentrale Triebkraft des Kinos generell. Und sie ist immer schuldig, nie unschuldig. Aus einer eben solchen moralischen Ausgangslage gilt es auch einen Film wie „22 July“ zu betrachten.

Sonntag, 7. Oktober 2018

Zuletzt gesehen: September 2018

"Disenchantment" [US '18 | Season 1] - 6/10

"Lessons from a Calf" [JP '91 | Hirokazu Kore-eda] - 7/10

"The Tale of Tales" [FR, IT, UK '15 | Matteo Garrone] - 6/10

"African Queen" [US, UK '51 | John Huston] - 6/10

"Schneewittchen und die sieben Zwerge" [US '37 | David Hand] - 5/10

"Brokeback Mountain" [US '05 | Ang Lee] - 8/10

"Still the Water" [JP '14 | Naomi Kawase] - 6/10

"Phantom Thread" [US '17 | Paul Thomas Anderson] - 8/10

"Avengers: Infinity War" [US '18 | Anthony & Joe Russo] - 5/10

"Upgrade" [AU '18 | Leigh Whannell] - 6/10

"Mindhunter" [US '17 | Season 1] - 7/10

"Der Mieter" [FR, US '76 | Roman Polanski] - 8/10

"Luz" [DE '18 | Tilman Singer] - 4/10

"Die grausame Frau" [DE '86 | Monika Treut & Elfi Mikesch] - 5/10

"Into the Inferno" [UK '16 | Werner Herzog] - 6/10

"Cowboy Bebop" [JP '97 | Staffel 1] - 7/10

"Yakuza" [US, JP '75 | Sydney Pollack] - 7/10

"Carol" [US, UK '15 | Todd Haynes] - 7/10

"Shutter Island" [US '10 | Martin Scorsese] - 5/10

"Damsel" [US '18 | David & Nathan Zellner] - 4/10

"Dornröschen" [US '59 | Clyde Geronimi] - 7/10

"Isle of Dogs" [US, JP '18 | Wes Anderson] - 6/10

"The Land of Steady Habits" [US '18 | Nicole Holofcener] - 4/10

"Touch of Evil" [US '58 | Orson Welles] - 6/10

"Total Recall" [US '90 | Paul Verhoeven] - 6/10