Lee Chang-dong sagte einmal, dass er seine Kurzgeschichten immer für eine bestimmte imaginäre Person schreibe; dass seine Texte wie Liebesbriefe an diese Person seien, die so denkt und fühlt wie er. Nun, auch wenn es vermessen ist: bei Burning fühle ich mich wie diese eine Person. Das macht das Schreiben über diesen Film, über meine Rezeptionserfahrung, so kompliziert. Vieles in diesem Film ist ungewiss. Und ich denke, dass diese Ungewissheit keinen künstlerischen Rückzugspunkt markiert, hinter der sich bequem verschanzt werden kann sobald es einmal konkret wird und die Fragen drängend. Nein, ich denke die Ungewissheit dieses Filmes korrespondiert direkt mit seiner inhaltlichen Konzeption. In seiner Ambiguität ist Burning nämlich nicht beliebig. Manchmal tänzelt der Film weltvergessen zum Jazz, der aus den Autoboxen dringt, manchmal ist er von beängstigender analytischer Schärfe. Manchmal ist es die Gleichzeitigkeit dieser Dinge, die genialisch ist. Die meiste Zeit findet der Film gerade in den Zwischenbereichen, den Gleichzeitigkeiten statt. Und in diesem Dazwischen, die Grenzen scheinen fließend, um dann umso brutaler sichtbar zu werden, findet Denken und Fühlen plötzlich zueinander. Und manchmal bleibt es nur bei einem unauflösbaren Gefühl des Unbehagens. Der Film kann diese Augenblicke ebenso wenig auflösen wie die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die er schildert.
„Wieso bist du immer so ernst?“, fragt der reiche Ben (Steven Yeun) unseren Protagonisten Jong-su (Yoo Ah-in) ganz lässig an einer Stelle des Filmes. Überhaupt: die Figur des Ben ist immerzu lässig. Kapital macht lässig. Er hat die Gewissheit internalisiert. Jong-su, der arme Schlucker, schlurft hingegen durch diesen Film wie der letzte Schluck Wasser, der die Kurve nicht gekriegt hat. Eine typische Murakami-Gestalt. Schreiberling, leise, introvertiert, aufmerksam. Schriftsteller haben ihre eigenen Phantasmen, Murakami ist da keine Ausnahme. Lee Chang-dong schildert die Begegnungen zwischen Arm und Reich nicht wie sein Kollege Bong Joon-ho über einen sich beständig zuspitzenden, immer offener werdenden Konflikt, vielmehr führt er aus, was in Parasite lediglich anklingt: Die Gangdam-Elite wird nicht trennscharf als das Andere positioniert, damit unser Protagonist in ihrem Schatten an Profil gewinnt. Stattdessen drückt sich die Überlegenheit und die Brutalität der Klassenunterschiede gerade in ihrer Freundlichkeit und in ihrem Interesse an denjenigen aus, die nicht Teil ihres sozialen Kreises sind und es auch niemals sein werden. Sie empfangen den armen Jong-su und die arme Hae-mi (Jeon Jong-seo) mit offenen Armen – aber aus der Gewissheit bestehender Verhältnisse heraus. Es folgen kleine Gesten der Befriedung: Jong-su und Hae-mi werden zum Abendessen eingeladen, Hae-mi darf den Tanz des großen Hungers tanzen, den sie von ihren Afrikareisen mitgebracht hat (eigentlich war sie auf der Suche nach dem Sinn) und Bens Freunde lächeln schwach und erfreuen sich an dieser kleinen Zirkusnummer, ein bisschen frischer Wind hat schließlich noch niemandem geschadet. Es ist eine brutale Szene von brutaler Subtilität, weil sie die scheinbare Unveränderlichkeit der Verhältnisse im Habitus verankert.
Der schönste Augenblick in diesem wunderschönen Film ist der bereits erwähnte Tanz zur Musik von Miles Davis. Barbusig und bekifft tänzelt sie dahin, die Sonne geht unter und der große Schmerz fährt in diesen Film hinein in dem Augenblick, in dem die Musik verstummt und nur die Stille bleibt. Überhaupt: alles an dieser Szene ist elegant und poetisch. Plötzlich war das niedersächsische Hinterland, aus dem ich komme, direkt an die nordkoreanische Grenze teleportiert und Lee Chang-dong bekommt all die Dinge zu fassen, in einem Gefühl konserviert, die bei einem Sommerabend auf dem Land mitschwingen ohne sie aussprechen zu können. Es ist keine nostalgische Erinnerung, die diesen Augenblick beseelt, es ist ihr genaues Gegenteil: es ist die Aufhebung jenes verklärenden Blickes, den der Film zunächst zu provozieren scheint. Verklärung und Zertrümmerung, hier belagern sie den gleichen Ort. Es scheint so als schwebe dieser Film. Diese eigentümliche Ungewissheit macht ihn ebenso quälend, wie sie ihn faszinierend macht. Er kann die Konflikte nicht auflösen, ebenso wenig wie wir uns sicher sein können, dass die Konfliktlinien den ganzen Film über nur einseitig empfunden worden sind. Die Unterschiede zwischen den Figuren werden nicht einmal so sehr an den Dingen deutlich, die sie umgeben (die edle Stadtwohnung und der Porsche auf der einen, das marode Landhaus und der schäbige Kleinbus auf der anderen Seite), vielmehr konstituieren sie sich im Raum des Sozialen, im Aufeinanderprallen der Figuren. Die Opposition ist jeder Geste, jedem Blick eingeschrieben, aber sie spricht sich nie offen aus.
“There’s class warfare, all right, but it’s my class, the rich class, that’s making war, and we’re winning.” (Warren Buffett)
An einer Stelle sehen wir Ben in seiner Wohnung mit einer jungen Frau. Bis zu diesem Zeitpunkt haben wir Ben nie alleine zu Gesicht bekommen, die Wahrnehmung seiner Figur erfolgte stets über die Schulter von Jong-su hinweg, war also immer gefärbt von dessen Verdachtsmomenten, dessen Unbehagen. Ben hockt also vor dieser Frau, an seiner Seite ein Schmink-Koffer (dieser wurde bereits früher im Film eingeführt) und trägt dieser in ruhigen, behutsamen Bewegungen Make-up auf. Keiner von beiden spricht ein Wort. Die Frau blickt verängstigt drein, lächelt schwach, sucht nach einer Regung in Bens Gesicht und schließt dann die Augen. Es folgt ein Schnitt und die Szene ist zu Ende. Hier stoße ich an eine Grenze, die meine Sprache und mein Denken über Filme gleichermaßen betrifft: Es gibt keine Interpretation dieser Szene meinerseits, im Sinne einer Übersetzung der filmischen Elemente in ihre Bedeutungen. Es steht nicht das Filmische für das Eigentliche abseits seiner Fiktion, vielmehr werden Denken und Fühlen, das Filmische und das Eigentliche in dieser Szene kongruent miteinander. Der Subtext wird förmlich an die Oberfläche gespült und löst sich gleichsam atmosphärisch auf. Er bemalt sie, bemalt ihre Oberfläche, sie ist vor Angst wie erstarrt. Ihr Gesicht indiziert die Gewalt dieses Augenblicks, die sich ausschließlich im Verhältnis der Körper zueinander zeigt. Dabei ist es keine gewaltsame Eskalation, die wir hier zu sehen bekommen. Es ist vielmehr eine Gewalt, die selbstverständlich geworden ist und die genau deswegen so schockiert. In ihrer Selbstverständlichkeit und ihrer Normalität scheint sie sich fast zum verschwinden zu bringen. Zurück bleibt die Ungewissheit des Augenblicks.
Lee Chang-dong erzählt in einer filmischen Sprache, die intellektuell und intuitiv zugleich ist. So wie da nie auf der einen Seite der Gedanke steht und auf der anderen Seite das Gefühl, sondern sich beide Sphären wechselseitig bedingen. Die Beschäftigung mit Burning führte mir auch mein eigenes Hadern mit verschiedenen Formen der Filmkritik vor. Die Flüchtigkeit eines Mediums, das mit 24 Bildern pro Sekunde an einem vorbeirauscht, lässt sich nicht mit den Ansprüchen nach Vollständigkeit oder Allgemeingültigkeit vereinbaren. Über Filme zu schreiben heißt also über das Flüchtige zu schreiben. Selbst das Bild, das zur näheren Betrachtung angehalten wird und deswegen ohne Kontext ist, bekommt nichts zu fassen, das im Moment des Sehens entscheidend ist. Wenn ich diese Prämisse akzeptiere, stellt sich die Frage, wie die Filmkritik dieser Flüchtigkeit begegnen kann.Wenn die Kunst es erlaubt, die Sprache zu umgehen (Niklas Luhmann), dann kann die Filmkritik mit ihren Worten nur verzweifelte, beständige Kreisbewegungen vollziehen. Sie kann sich nähern. Darin liegt die Chance.
Die ontologische Unsicherheit, die sich im Welt- und Kunstempfinden beständig androht, lässt sich nicht auflösen oder überwinden, aber wir können lernen, Ambiguität und Ungewissheit auszuhalten. Vor allem, so scheint es mir, darf und sollte Filmkritik auch zweifeln dürfen. Zweifeln an der eigenen Perspektive, zweifeln an der eigenen Wahrnehmung. Es sollte der Modus der Filmkritik per se sein. Zumindest einer Filmkritik, die Filme nicht bloß als Produkt begreift und sich selbst als Dienstleistung (auf der einen Seite) und sie ebenso wenig zum Anschauungsmaterial und Stichwortgeber für gesellschaftspolitische Diskurse degradiert und dabei filmästhetische Dimensionen gänzlich ignoriert (auf der anderen Seite). Beide Formen der Filmkritik verweigern sich der Flüchtigkeit, die dem Gegenstand Film grundlegend zu eigen ist. Und während die eine Form der Kritik versucht alle wirkungsästhetischen Dimensionen zu verobjektivieren oder auszublenden, leidet auch die sich als direkt, emotional und authentisch gerierende Filmkritik („auf Augenhöhe“) an einer Überbetonung derselben.
Vielleicht ist es so: Kritik konstituiert sich aus dem Wechselspiel von Nähe und Distanz, Denken und Fühlen, Einfühlung und Distanzierung. Ohne Nähe gibt es keine Kritik, die sich wirklich angreifbar macht für die wirkästhetischen Dimensionen eines Filmes; die sich nicht auch manipulieren lassen will. Aber Kino ist Manipulation und wir sollten uns manipulieren, uns affizieren lassen, um gleichsam auf Distanz zu den eigenen Affekten zu gehen. Diese dialektische Bewegung beschreibt, so scheint es mir, aber kein Nacheinander, keinen starren Prozess kritischer Rezeption, sondern es ist gerade die Gleichzeitigkeit dieser Modi, die Kritik ermöglicht, oder: erst wirklich fruchtbar werden lässt. Ganz oft, so scheint es mir weiter, vollziehen wir diese wellenartigen Bewegungen in der Rezeption von Kunst bereits intuitiv und von ganz alleine. Auf die Ergriffenheit folgt die Skepsis und andersherum. Der Resonanzraum wird zum Denkraum und andersherum. Manchmal überschneiden sich die Räume und überlappen sich. In diesen Momenten, in der Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz, produzieren sie Widersprüche. Der Kopf stößt auf das Herz. In diesen Momenten beginnt ein Aushandlungsprozess mit uns selbst. Hier treten die „ja, aber“s und die „trotzdem“s auf den Plan und wir versuchen das Denken mit dem Fühlen zu versöhnen. Vielleicht müssen wir aber nichts versöhnen, sondern können gerade diese Widersprüche sichtbar machen, indem wir das eigene Sehen anderen erfahrbar machen. Vielleicht, es ist nur ein Verdacht, beginnt genau dort die Kritik.