Samstag, 28. Oktober 2017

"Her" [US '13 | Spike Jonze]

In „Her“ wird Utopie und Dystopie gleichermaßen sichtbar. Utopisch sind nicht nur die Müll-befreiten Promenaden und farbenfrohen Großraum-Büros, die Graffiti-freien High-Tech-Züge (natürlich gefilmt in Japan) oder das gänzlich Smog-freie Downtown L.A., sondern vor allem die Realitäten der zukünftigen Arbeitswelt. Denn Arbeit, so scheint es zumindest, ist hier schon lange keine ökonomische Notwendigkeit mehr, sondern zuvorderst ein Instrument zur Selbstverwirklichung. Protagonist Theodore (Hundeblick: Joaquin Phoenix) schreibt beruflich die persönlichen Briefe fremder Leute, die nicht in Worte zu fassen glauben, was sie fühlen und denken; später sollen diese sogar professionell verlegt und physisch erhältlich sein. Freundin Amy (Amy Adams), ein bemitleidenswerter Charakter, der dreinschaut wie ein Schluck Wasser in der Kurve, dreht Kunstfilme über das Schlafen und sucht in der Einfachheit der Kunst berufliche Erfüllung. Als das nicht ganz zu klappen scheint, produziert sie Videospiele über Kindererziehung. Das bedingungslose Grundeinkommen hat den Menschen dieser Utopie endlose Freiheit gewährt, zeigt aber auch diejenigen, die an den Herausforderungen schier grenzenloser Selbstbestimmung zu scheitern drohen. Auch Oberlippenbärte und Hüfthosen ohne Gürtel sind Bestandteil dieser Utopie. Aber ob diese nun utopisch sind oder nicht, steht wohl offen zur Debatte.

Die Dystopie von „Her“ liegt nicht in der technologischen Fortentwicklung und der Evolution der Arbeitswelt – die Dystopie ist vielmehr ideologischer Natur: sie liegt in der Idee des Glücks. Das Streben nach dem Glück, unter anderem in der Präambel der Verfassung festgeschrieben, ist in der nahen Zukunftsvision von Jonze mehr denn je zu einer amerikanischen Bürgerpflicht geworden. „Her“ ist bestimmt von der Omnipräsenz der Gefühle. Andauernd befragen sich die Figuren nach ihren Gefühlszuständen, prüfen nach, was sich in ihnen gerade bewegt und ob sie glücklich sind oder nicht. Gerade weil die Menschen in dieser Dystopie unentwegt ihre Seelenwelt erforschen müssen, können sie nicht glücklich sein. Wenn Ideal- und Ist-Zustand laufend abgeglichen werden, muss die eigene Vorstellung des Glücks zwangsläufig scheitern. Im Falle von Theodore scheitert jede neue Kontaktaufnahme mit anderen Menschen an der idealisierten Erinnerung an eine vergangene Beziehung, die Jonze über langweilige, weil viel zu offensichtliche Rückblenden sichtbar macht. Theodore lässt sich von der Idee eines Glückes beherrschen, das per Definition nie final festgestellt werden kann, weil Sehnsüchte und Bedürfnisse sich laufend neu gebären. Die Konsequenz daraus ist deprimierend: die Menschen in „Her“ werden niemals glücklich sein. - Die Dystopie von „Her“ liegt in der Diktatur des Glücks.

Montag, 23. Oktober 2017

"Zwei Tage, eine Nacht" [BE, IT, FR '14 | Jean-Pierre & Luc Dardenne]

Cotillard gleitet nicht, fliegt nicht anmutig, treibt nicht sehnsuchtsvoll dahin. Cotillard kriecht auf allen Vieren, hängt kraftlos in den Seilen, schleppt sich von Haustür zu Haustür, die Hoffnung längst an den rostigen Nagel gehängt. Einmal buckeln und betteln, dann wieder aufraffen, dann nochmal alles von vorne, aber bitte nett dabei. Täglich grüßt das Murmeltier. Die Depression sitzt noch im Nacken, macht die Schultern schwer und trübt den Verstand, der durch die glasigen Augen ohnehin nichts zu erkennen vermag. Und depressiv macht „Zwei Tage, eine Nacht“ auch. Tief depressiv. Solidarität ist so ein schönes Wort, wenn es Leute in Anzügen über die Flimmerkiste verbreiten oder auf Wahlplakate schreiben. Cotillards Figur, ein geprügelter Hund, der uns auf eine moderne Odyssee mitschleift, die einem am liebsten erspart bleiben würde, darf sich erniedrigen, den Kopf einziehen und doch irgendwie versuchen Haltung zu wahren. Ihre Reise und ihre Begegnungen machen traurig und hoffnungsvoll zugleich, die meiste Zeit aber zuvorderst wütend auf System und Leute. Und doch selbst so ahnungslos dabei. 

8/10

Freitag, 20. Oktober 2017

Die 10 besten Horrorfilme aller Zeiten

Der Titel ist kompletter Unsinn - das sind natürlich nicht die zehn besten Horrorfilme, schon gar nicht aller Zeiten. Dafür eröffnet solch eine Liste, gerade im für Horrorfilme prädestinierten Monat Oktober, einmal die Chance für eine persönliche Bestandsaufnahme: Wo liegen eigene Präferenzen im Horrorgenre, welche Jahrzehnte haben den größten Eindruck hinterlassen, sind unter den Einträgen sogar thematische oder stilistische Verbindungslinien zu finden? Da ich mit gegenwärtigen Horrorfilmen eher selten etwas anfangen kann und Jump Scares in erster Regel anstrengend, nicht aber gruselig finde, werden die meisten Produktionsjahre wohl vor den Nullerjahren liegen. Umso interessanter sind demnach Nennungen die dann tatsächlich einmal aus jüngerer Vergangenheit stammen.

Was nun aber einen Horrorfilm konstituiert und was nicht ist letztendlich eine müßige Diskussion, denn eine scharfe Trennung zum artverwandten Thriller ist oft schwierig. Um die Liste trotzdem nachvollziehbar zu machen, nur soviel: Horrorfilme sind für mich solche Filme, die den Zuschauer in einen Zustand der Angst versetzen. Ich folge also einem weiten, wirkästhetischen Verständnis, wie es beispielsweise auch Ursula Vossen in ihrem Überblickswerk beschreibt („Filmgenres: Horrorfilm“). Abgrenzend zum Thriller treten in Horrorfilmen auch häufig Elemente des Phantastischen in den Vordergrund. Horrorkomödien habe ich aufgrund des ersten Kriteriums ausgeklammert. Sorry, „Gremlins“!

Ein weiteres, mir sehr wichtiges Element des Horrorgenres ist die Begegnung und Konfrontation mit dem Anderen. Diese muss nicht immer in Mord und Totschlag gipfeln, sondern kann auch eine empathische, gar zärtliche Auseinandersetzung mit dem Fremden ermöglichen. Meiner Meinung nach liegt hier eine der großen Chancen des Horrorkinos, das Selbst im Fremden zu erkennen und die Konfrontation mit kollektiven und individuellen Angstwelten. Der Horrorfilm ist demzufolge auch nicht primär destruktiv, sondern kann konstruktiv einen Dialog eröffnen. Konstruktiv kann er auch deshalb wirken, weil er dorthin geht, wo es relevant wird: dort, wo die Wunden sichtbar werden.

„Alien“ [US '79 | Ridley Scott]

Organisch-orgiastische Weltraum-Hatz. Ripley rennt, das Alien jagt. Aber nur so lange bis Ripley den Flammenwerfer in die Finger bekommt und den Schalter für den Notausgang findet. Scott versucht bis heute an dieses tiefschwarze Überlebensdrama anzuknüpfen und verlängert doch nur die Qualen eines sterbenden Patienten. Den Überlebenskampf seiner Protagonistin in einer lebensfeindlichen, feuchten Umgebung sollte dieser nie wieder derart atmosphärisch zu greifen bekommen wie 1979.

„Blair Witch Project“ [US '99 | Daniel Myrick & Eduardo Sánchez]

Als Mockumentary noch keine Warnung war, sondern methodisches und erzählerisches Neuland. Die Blair Hexe sollte hier nie zu sehen sein, stattdessen wird sie hörbar gemacht – in den Gruselgeschichten, die die Bewohner des Städtchens Burkittsville sich seit Generationen hinter vorgehaltener Hand erzählen, in den Ausführungen von Protagonistin Heather, die dem Hexenmythos über eine empirische Feldforschung auf die Schliche kommen möchte und natürlich in den leisen Schritten, den fernen Stimmen und dem nächtlichen Wind, der flüsternd über die Zeltplane streicht.

„Scream“ [US '96 | Wes Craven]

Anders als im ultra-selbstreferentiellen Sequel glänzt dieses Meisterwerk auch durch Momente wahren Horrors. Das zeigt insbesondere die meisterhafte Eröffnungsszene, die sich zwar selbstbewusst Pop-kulturell verortet, aber eben nicht dauernd auf sich selber hinweisen muss. Ob das nun aber Dekonstruktion, Satire oder schwarze Komödie ist, ist am Ende auch egal - „Scream“ ist schlicht und ergreifend ein guter (Horror-)Film.

„Don't Look Now“ [IT, UK '73 | Nicolas Roeg]

Nichts hat sich mir je so eingebrannt wie das Gesicht der kleinen Gestalt im roten Regenmantel. Und die unglaublichen, innovativen Kamerabilder Nicolas Roegs, die die Gespenster in den Kanälen Venedigs überhaupt erst sichtbar machen. Verlust und Trauer statt blanker Existenzangst. 

„Frankenstein“ [US '31 | James Whale]

Eine Szene gibt hier den Ausschlag, ob man Dr. Frankensteins Leichenflickwerk nun als missverstandenes Wesen begreift, das Opfer eines unregulierten Wissenschaftsapparates geworden ist oder als bösartige Bestie. In der Begegnung mit dem Mädchen am Seeufer sahen damalige Zuschauer lediglich das Resultat ihres Zusammentreffens (den Tod des Mädchens), nicht aber die empathische Annäherung zuvor. Diese war zugunsten einer klaren moralischen Verortung in der ursprünglichen Fassung nicht enthalten. Heute wird dank solcher Szenen vor allem der zutiefst humanistische Grundappell dieses wunderschönen, schwarz-weiß gerahmten Wunderwerks sichtbar.

„The Fly“ [CA, US '86 | David Cronenberg]

Skepsis gegenüber einer Grenzen-auslotenden Wissenschaft ist dem Horrorfilm seit jeher fest eingeschrieben. So auch hier: Seth Brundle, von Jeff Goldblum irgendwo zwischen nervösem Charmbolzen und prototypischem Mad Scientist angelegt, will der Welt und sich selbst die Teleport-Technologie erschließen. Dass ausgerechnet eine kleine Fliege dessen Selbstversuch durchkreuzt ist eine ebenso einfache, wie geniale Prämisse. In den Bilderwelten Cronenberg'schen Body Horrors findet sie ihre Erfüllung.

„Eraserhead“ [US '77 | David Lynch]

Es ist wahnsinnig eitel sich selber zu zitieren, aber zu Lynchs Debüt fiel mir nicht mehr ein als ich ohnehin schon gesagt habe: „Die Bildideen direkt von „Grandmother“ entliehen, diesem biobasierten, langen Kurzfilm-Projekt kurz davor, das ihm Zugang in die sich windenden Gedankenwelten eines verängstigten Kindes gewährte – seine Gedankenwelt. Kondensiert wurde ein autobiographischer Fiebertraum, nach außen gestülpt, um uns sichtbar zu werden, aber dialektisch nach innen gerichtet, geschwängert von der Angst um die Rolle in der Welt und die Verantwortung, die einen dort erwartet. Der Mark-erschütterndste Horror-Film von allen also.“

„The Thing“ [US '82 | John Carpenter]

Kurt Russell verliert gegen einen Computer im Schach und eine Gruppe Forscher muss sich in der Eiswüste der Antarktis gegen einen außerirdischen Gestaltenwandler zur Wehr setzen. Die Ausgangslage lässt deutliche Parallelen zu Scotts „Alien“ zu und doch gestaltet sich der Überlebenskampf hier deutlich anders aus. Wo „Alien“ nach und nach einer feministischen Hauptfigur die Bühne bereitet, kämpft hier bis zum Ende ein Kollektiv ums nackte Überleben. Morricones Score treibt diese Tour de Force an, Rob Bottins Fleischhaufen lassen ihn lebendig werden.

The Texas Chain Saw Massacre [US '74 | Tobe Hooper]

Niemand tanzt so schön im Licht der untergehenden Sonne.

„Antichrist“ [DK, DE, FR, SE '09 | Lars von Trier]

Mann gegen Frau. Gott gegen Teufel. Religion gegen Wissenschaft. Van Triers auf die Leinwand gebannter Seelenstriptease, entstanden nach einer langen Phase der Depression, zeigt außerzeitliche, apokalyptische Bilderwelten, in denen das Chaos regiert. Selten lagen Geburt und Tod so nahe beieinander. Und selten gab es solch eine entwaffnend ehrliche, brutale Bestandsaufnahme des Seelenhaushalts eines geplagten Künstlers auf der Leinwand zu sehen.

Honorable Mentions

„Rosemary's Baby“ [US '68 | Roman Polanski]
„Rec“ [ES '07 | Jaume Balagueró & Paco Plaza]
„A Tale of Two Sisters“ [KR, HK '03 | Jee-woon Kim]
„Audition“ [KR, JP '99 | Takashi Miike]
„Psycho“ [US '60 | Alfred Hitchcock]
„Nosferatu“ [DE '22 | F.W. Murnau]
„Misery“ [US '90 | Rob Reiner]
„So finster die Nacht“ [SE '08 | Tomas Alfredson]
„Sleepy Hollow" [US '99 | Tim Burton]

Sonntag, 8. Oktober 2017

"Paterson" [US '16 | Jim Jarmusch]

Paterson ist die Stadt. Paterson ist der Mensch. „Paterson“ ist der Film von Jim Jarmusch, angelegt als Hommage an Stadt, Mensch, Fluss. Angelegt als Hommage an William Carlos Williams „Paterson“, Vorbild für den busfahrenden Poeten aus „Paterson“: Paterson. In den Alltagsstrukturen sieht dieser nicht Monotonie, Repetition, endlose Wiederholungsschleifen, in denen der Wahnsinn nur durch die Zeit auf Distanz gehalten wird. Er sieht nicht zermürbende Leere, lästige Pflicht, Stillstand in der Bewegung. Paterson sieht nicht jeden Tag gleich, und Jarmusch inszeniert nicht jeden Tag gleich. In den Alltagsstrukturen von Paterson werden die Variationen und Feinheiten des Lebens sichtbar, die im Außerhalb verborgen bleiben, wenn der Blick nicht zur Seite geht. Im Nacken von Paterson wird die Zukunft einer Liebe geschmiedet und die großen philosophischen Themen angepackt. In den Bars von Paterson, unter den wachsamen Augen von Paterson, wird die Zukunft einer Beziehung verhandelt und zum Scheitern verurteilt. Paterson, also die Stadt, ist aber auch Jarmusch-Town, bevölkert von stilbewussten, interessanten Menschen und dichtenden Fünftklässlerinnen. Backsteingebäude und Arbeiterschicht. Philosophie-Studenten und Designer-Vorhänge. Und „Paterson“, also Jarmusch, gesteht dem Alltag seine Liebe. Und er formuliert ein hehres Ziel: das Kleine im Großen erkennen, das Besondere in zyklischen Wiederholungsmustern. Und dieses Besondere kurz festhalten, um dann zu erkennen, dass es nicht für ewig währt. Und dann nicht zu resignieren, sondern stoisch seinen Weg zu gehen. Eine Zeile nach der nächsten, ein Wort auf das andere. Auf jede gute Formulierung folgt eine missratene, auf jede missratene... eine gute. 

8/10

Sonntag, 1. Oktober 2017

Zuletzt gesehen: September 2017

"Blue Steel" [US '90 | Kathryn Bigelow] - 4/10

"Death Proof" [US '07 | Quentin Tarantino] - 6/10

"Kill Bill: Volume 1" [US '03 | Quentin Tarantino] - 8/10

"Kill Bill: Volume 2" [US '04 | Quentin Tarantino] - 8/10

"Sin City: A Dame to Kill For" [US '14 | Robert Rodriguez & Frank Miller] 1/10

"Exit Through the Gift Shop" [UK, US '10 | Banksy] - 6/10

"Chiko" [DE '08 | Özgür Yildirim] - 4/10

"Thanks for Sharing" [US '12 | Stuart Blumberg] - 3/10

"Sie küßten und sie schlugen ihn" [FR '59 | François Truffaut] - 7/10

"Hot Nasty Teen" [SE '14 | Jens Assur] - 5/10

"V/H/S" [US '12 | Diverse] - 4/10

"Tschick" [DE '16 | Fatih Akin] - 5/10

"Scanners" [CA, US '81 | David Cronenberg] - 5.5/10

"Get Out" [US '17 | Jordan Peele] - 6/10

"Wonder Woman" [US '17 | Patty Jenkins] - 4/10

"Star Wars Episode I: The Phantom Menace" [US '99 | George Lucas] - 5/10

"Star Wars Episode II: Attack of the Clones" [US '02 | George Lucas] - 4/10

"Star Wars Episode III: Revenge of the Sith" [US '05 | George Lucas] - 6/10

"Everest" [UK, IS, US '15 | Baltasar Kormákur] - 6.5/10