Durch Nebenjobs habe ich relativ oft in
Lagerhallen gearbeitet. Lange, helle Hallen waren das, denen jeder
ästhetische Reiz restlos ausgetrieben wurde. Ich empfand diese
funktionalen Räume, diese Nicht-Orte, immer als trostlos und die
Tätigkeiten in ihnen als furchtbar langweilig. Die meiste Zeit hatte
ich jedoch Glück. Oft traf ich auf Menschen in meinem Alter, auch
Studenten oder solche, die sich erinnerten einmal zehn Semester
Germanistik studiert zu haben und nun in den Lagerhallen irgendeines
Verlagsriesens hängengeblieben waren und Schulbücher auf Paletten
stapelten; oder solche, die auf der Durchreise waren, um noch kurz
etwas Kohle zu verdienen für das Work & Travel-Jahr in
Australien. Für den Lebenslauf und die Lebenserfahrung und um das
halbwegs solide Schulenglisch ausgerechnet bei den Aussies
aufzubessern.
Und man traf jene, die schon seit
Jahrzehnten dort waren – und bis zum Ende ihres Berufslebens auch
nirgends anders mehr sein würden, weil es der Marktwert des eigenen
(Human)Kapitals ohnehin nicht erlauben würde. Oder weniger
hochgestochen: sie waren zu alt und alte Mitarbeiter lohnen nicht.
Hier lag immer ein Spannungsverhältnis, denn als Student verrichtete
ich Arbeit, die sich im Wesentlichen nicht sonderlich unterschied von
der ihrigen. Ich schätze, es führte ihnen ihre Ersetzbarkeit vor.
Für mich stand immer fest, dass ich mir lieber die Kugel geben würde
als solche Arbeit mein Leben lang verrichten zu müssen. Natürlich
lag in diesem Gedanken linkes Pathos und jugendliche Überheblichkeit
und wahrscheinlich habe ich mich insgeheim auch immer besser gefühlt
als diese Menschen. Vielleicht empfinde ich bis heute so.
Ich verspürte immer ein großes
Unbehagen gegenüber der entfremdeten Arbeit; die Monotonie war
unerträglich, die zermürbende, nie enden wollende Repetition, die
eine Maschine so viel effektiver verrichten könnte. Aber eigentlich
behagte mir vor allem ihr Sinn nicht, oder das Fehlen eines solchen,
oder die systemischen Bedingungen innerhalb dessen solche Arbeit erst
sinnhaft wird, sinnhaft gemacht wird. Mit meiner zunehmenden
Politisierung bildete sich allmählich eine Idee davon, warum dem so
war. Plötzlich ließ sich das Unbehagen meiner subjektiven Erfahrung
in die Theorie überführen. Marx formulierte den Begriff der
Entfremdung von der Arbeit in der kapitalistischen
Gesellschaftsordnung, die Ausbeutung des Proletariats, das durch
seine eigenen Hände Arbeit den Abstand zur Klasse der
Kapitaleigentümer beständig vergrößert. Eigentlich alter Käse
also. Marx und Engels in der Theorie, Lenin und Mao in der
politischen Praxis - irgendwo dazwischen die feinen Unterschiede, die
Auseinandernehmer der Frankfurter Schule und die scheinbare
Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis.
Während der Arbeit in den Lagerhallen
dachte ich unentwegt darüber nach, wie sich meine Erfahrungen in
irgendwelchen gottverlassenen Industriegebieten kreativ fruchtbar
machen ließen. Ich machte mir Notizen zu Menschen, die mir
begegneten und den Dingen, die sie sagten, wie sie sie sagten. Ich
wollte ihr Denken ein Stück weit verstehen. Vielleicht, dachte ich,
ließ sich daraus eine Kurzgeschichte gewinnen. Vielleicht könnte
man sogar sagen, dass ich nach einem Weg gesucht habe, die Leute um
mich herum auf eigene, nämlich kreative Weise auszubeuten, indem ich
mir ihre Geschichten nahm und mich empört in ihrem proletarischen
Schicksal labte. Nach der Sichtung von „In den Gängen“ bin ich
mir sicher, dass ich mit dieser Idee nicht alleine war.
„In den Gängen“, basierend auf
einer Kurzgeschichte von Clemens Meyer und dessen Erfahrungen als
Gabelstaplerfahrer im Lager eines Großmarktes, ist möglicherweise
ein Film über das Proletariat geworden. Möglicherweise ist er aber
auch gänzlich unpolitisch. Vielleicht will ich, dass er politisch
ist. Und vielleicht bin ich wütend darüber, dass er die Chance,
politisch zu sein, nie wirklich ergreift. Das Proletariat im Film
heißt natürlich nicht mehr so. Es nennt sich nicht so und wird
nicht so genannt. Die Sprache hat sich schließlich gewandelt, so wie
sich die proletarische Klasse gewandelt hat. Diese kann sich
mittlerweile ein eigenes Auto leisten und einmal im Jahr
All-Inclusive-Urlaub an der
Mittelmeer-Küste, aber im Wesentlichen sind die Strukturen dieselben
geblieben – nur die Abstände haben sich vergrößert und die
Kapitalströme haben sich weiter verzweigt. Und es gibt neue Namen
für ein altes System, das sich laufend Erneuerungs- und
Transformationsprozessen unterzieht – Turbokapitalismus,
Spätkapitalismus, Finanzmarkt-Kapitalismus, Plattform-Kapitalismus,
Neoliberalismus. Und mit dem Neoliberalismus die tiefgreifenden
Umwälzungen bestehender (Denk-)Strukturen; die Krönung
kapitalistischen Denkens und ihre Ausweitung auf alle Lebensbereiche.
Und doch ist „In den Gängen“ kein Film über den
Neoliberalismus.
Arbeit als Befreiung
Christian, gespielt Franz Rogowski,
fängt neu an im Lager eines Großmarktes. Zwischen den Regalen, also
in den Gängen, sortiert er in der Getränkeabteilung Getränkekisten
ein, steuert ungeschickt die Ameise, wird aber immer geschickter und
nach bestandener Gabelstapler-Prüfung darf er endlich mit dem
Gabelstapler durch die Gänge gleiten. Davor muss in der
Gabelstapler-Fahrschule natürlich noch der Splatter-Aufklärungsfilm
„Staplerfahrer Klaus“ geschaut werden – der Running Gag des
Logistikers. Stuber inszeniert die ersten, eigenständigen
Gabelstaplerfahrten von Christian als Erweckungserlebnis und
Emanzipationsmoment. Endlich darf einer, der zur kriminellen
Vergangenheit auf Abstand gehen möchte, den Erwartungen entsprechen
und ein Stück weit Verantwortung übernehmen. Und doch sind diese
Musikclip-haften Szenen kein Ausdruck eines unüberlegten, filmischen
Affekts, dem Drang die monotone Arbeit unbedingt ästhetisch
überhöhen zu müssen; stattdessen sind sie Ausdruck einer
eingenommenen, erzählerischen Perspektive, eines poetischen
Realismus, der Alltagsdinge durch subjektive Erfahrungswelten
schildert. Der Film verläuft nämlich in einem tonalen Hochmoment,
weil Christian so empfindet und ihn so imaginiert – Film also als
Ausdruck innerweltlicher Befindlichkeiten.
Christian wird im Laufe seiner
Probemonate von der Arbeit gänzlich verschlungen. In seiner Wohnung
angekommen weiß er nichts mit sich anzufangen, wartet auf den
nächsten Schichtbeginn, den kommenden Montag. Die Arbeit befremdet
ihn nicht, sondern ist integraler Bestandteil seiner
Resozialisierung. Sie eröffnet durch den regelmäßigen Kontakt zu
den Kollegen neue soziale Welten, deren Grenzen mit der Stechuhr und
dem Raum des Großmarktes sowohl räumlich, als auch zeitlich klar
gezogen scheinen. Erst Bruno, gespielt von Peter Kurth, überwindet
diese Grenze, indem er seine Autotür öffnet und Christian zu sich
einlädt. Erst diese kleine, aber entscheidende Geste praktizierter
Menschlichkeit erlaubt es Christian, sich den toxischen sozialen
Verbindungen der Vergangenheit zu entziehen. Daneben mäandert die
komplizierte Beziehung zu Marion aus der Süßwarenabteilung,
gespielt von Sandra Hüller. Der Gedanke an sie raubt Christian die
Nächte.
Die Unverbindlichkeit ihrer Beziehung
quält ihn, sie ist verheiratet, aber immer öfter unglücklich, ihr
Mann behandelt sie schlecht, er wäre so viel besser für sie. Obwohl
Arbeitsplatz und privater Raum so klar voneinander abgegrenzt
scheinen sind sie es doch nicht. Zwischen den Regalen wird
getuschelt, die neuesten Gerüchte ausgetauscht. Die Menschen nehmen
Anteil aneinander, es werden sogar familienähnliche Strukturen
sichtbar. Durch die Selbstbezeichnung als kleine Familie und Rituale
wie der Weihnachtsfeier versuchen sich Christian und seine Kollegen
aus der namenlosen, gesichtslosen Masse der Belegschaft herauszulösen
und gleichsam als Subjekte neu zu konstituieren.
Auf der Weihnachtsfeier wird derweil
Grillfleisch und Bier serviert, dessen Haltbarkeitsdatum abgelaufen
ist und in der Logik der Wegwerfgesellschaft auf den Müll gehört.
Ein System, das die Obsoleszenz von Produkten planen muss, lässt
einen die Stirn runzeln. Christian und seinen Kollegen aber bleibt
nichts als ein resigniertes Schulterzucken; sie nehmen sich von den
Bergen weggeworfener Lebensmittel so viel, wie sie essen können und
machen sich die Taschen voll. Das ist natürlich verboten -
Unternehmensvorschrift.
Und doch porträtiert „In den Gängen“
kein Proletariat der angehenden Revoluzzer. Das Proletariat ist
träge, angekommen, sesshaft geworden, hat sich mit den Umständen
des Systems arrangiert. Den Zwängen des Systems können sie nicht
entgehen, aber wenn sie nicht zappeln, sind die Fesseln weniger
spürbar. Stuber formuliert ihnen jedoch keinen Vorwurf daraus,
schaut nicht verächtlich auf sie herab, sondern bringt ihnen
Verständnis entgegen. Denn für Christian ist die Arbeit nicht
quälend, nicht entfremdend, sondern tröstend. In den geregelten
Bahnen seiner Beschäftigung findet er Halt, und in den Menschen, die
ihn umgeben. Möglicherweise muss die Frage gestellt werden, ob
dieser wegen oder trotz der systemischen Umstände so
viel Gutes aus seiner Arbeit in den Gängen des Großmarktes zu
ziehen vermag. Stuber inszeniert diesen Film mit solidarischen
Gesten, aber verzichtet auf politische Radikalität. Mit der
proletarischen Klasse zeigt er sich mitfühlend, aber er zeigt keine
Handlungsspielräume auf, durch die sich ihre Bedingungen verbessern
ließen.
Nach Brunos Selbsttötung sitzt der
Schock tief, aber das Leben muss weitergehen. Seinen Kollegen
erzählte er, dass er eine Frau hat, tatsächlich ist er in den
eigenen vier Wänden zunehmend vereinsamt. Er muss erkennen, dass am
Grund des Bierglases nichts liegt außer dem Warten auf eine Zukunft,
die immer Idee bleibt und nie Wirklichkeit wird. Statt des Wartens
wählt er das Ende. Hier tun sich individuelle Schicksale auf, denen
der Film mit aufrichtigem Mitgefühl begegnet. Aber er kann ihre
Miesere nicht beenden, weil er sie selbst kaum erkennt. Mehr noch:
das Mitleid verhindert gar eine radikalere, nämlich systemische
Kritik. Die Welt, so scheint es zu klingen, ist so, wie sie ist, aber
angesichts ihrer überwältigenden Komplexität, ihrer
überwältigenden Ungerechtigkeit, stehen wir am Ende hoffnungslos da
– und jeder für sich allein. „In den Gängen“ ist kein
politischer Film, sondern ein menschlicher – das ist womöglich das
verheerende.
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