„I know this is a strange question but is this reality?“
„Without Memory“ gehört zu einer Reihe von dokumentarischen
Filmen, die Hirokazu Kore-eda Ende der Neunziger Jahre für TV Man Union drehte
– einer seit 1970 bestehenden, unabhängigen Produktionsfirma. Der Film erzählt
die Geschichte von Hiroshi Sekine, der infolge einer Mangelernährung in einem
Krankenhaus sein episodisches Gedächtnis verlor. An Ereignisse, die über eine
Stunde zurückliegen, kann sich dieser nicht erinnern. Lediglich starke
Bewusstseinszustände wie Gefühle der Angst verhaften sich bisweilen
längerfristig in seinem Gedächtnis.
Der Film wird vor allem über ein narratives Voice-over
erzählt, das zu Bildern aus den Privatarchiven der Familie durch die Biografie
Sekines führt oder medizinische Details zu seiner Verfassung erläutert. Hier
ist der Film klar in den Strukturen klassischen Fernsehen-und
Dokumentarfilm-Handwerks verhaftet, indem er sich chronologisch auf einen kleinen
Abschnitt in Hiroshis Leben konzentriert, ohne sich in formale Experimente zu
begeben. In den Zwischenbildern und wiederkehrenden Themen wie Erinnerung und
Verlust wird aber auch schon jener Kore-eda sichtbar, der mit seinen
einfühlsamen Spielfilmen und zutiefst humanistischen Gesellschaftsstudien zu
einem der meist renommierten japanischen Filmemacher der Gegenwart aufsteigen
sollte. In seiner Themenvielfalt streift der Film dabei etliche philosophische
Diskurse und stellt eine ebenso große Anzahl von Fragen.
Fragen
Wie sehr ist unsere Identität beispielsweise materiell
fundiert? Und falls sie es nicht ist: wie können Körper und Geist als
voneinander getrennte Größen gedacht werden? Welche Rolle spielt bei der
Identitätskonstruktion die Erinnerung? Fungiert das menschliche Gehirn als
leeres Gefäß, das zunehmend mit Erfahrungen gefüllt wird und ist die Summe
dieser Erfahrungen dann das, was wir als das Ich wahrnehmen? Oder ist das Ich
nur eine Illusion des Gehirns, das uns gleichermaßen ein Bewusstsein
illusioniert, um mit der Fülle an Sinneseindrücken zurechtzukommen? Welche
Rolle spielt der Andere in der Bewusstwerdung des Selbst? Existiert das Selbst
in der Differenz zum Anderen oder in der Summe seiner Gemeinsamkeiten? In Kombination aus beidem?
„I always
feel like this isn't the way it's supposed to be. And then I can't tell whether
it's reality or my imagination.“
Hiroshis Leben ist stehengeblieben, aber er bleibt da, zum
Gespenst geworden, in einer Endlosschleife gefangen, in der die eigene
Situation immer wieder neu gelernt, neu akzeptiert werden muss. Die
Aufzeichnungen des Kamerateams um Kore-eda sollen ihm helfen, sich zu erinnern.
An einer Stelle übernimmt er selbst die Kamera, um die Gesichter und Namen des
Filmteams festzuhalten. Der Speicher der Kamera, die Kamera selbst, dient hier
als Erinnerungsersatz, übernimmt die Aufgaben, zu denen Hiroshis Gedächtnis
nicht mehr imstande ist. Marshall
McLuhans Theorie von den „extensions of man“, wonach die Medien und die ihr
zugrundeliegenden Technologien als Erweiterungen, oder gar Amputationen unseres
biologischen Körpers fungieren, bekommt an dieser Stelle eine ganz bildliche
Entsprechung geliefert.
„If I
really exist or not. I just don't know.“
Was passiert mit dem Menschen, wenn sich das Reservoir an Erinnerungsschätzen nicht mehr füllen lässt? Hiroshi bleibt im vollen
Bewusstsein seiner Behinderung, wenngleich er sie immer wieder vergisst. Er
muss jedes Mal aufs Neue um die Konsequenzen seines Zustandes erfahren. Wenn
das Ich die Summe aller Erfahrungen ist, also die Erinnerung der Erfahrung, was
passiert dann mit dem Ich, wenn es keine neuen Erinnerungen mehr hinzufügen
kann? Während die Kinder älter werden, eine neue Tochter geboren wird,
verbleibt Hiroshi in der Vergangenheit, erinnert sich an jene "Version" seiner Kinder, die vor ein, zwei Jahren existierte. Erst im Gespräch mit seiner Frau, die sich
über den gesamten Film hinweg mit einer schier übermenschlichen Geduld um ihren
Mann kümmert, lernt er, dass die Zeit weiter vorangeschritten ist.
„My films
are not the only ones concerned with memory. It's something to do with the
medium itself.“ - Hirokazu Kore-eda
Die Kamera fungiert im dokumentarischen Film als
Erkenntnis-Apparat. Hier fungiert diese jedoch zuvorderst als eine Art
Erinnerungsmaschine, die eine subjektive Erfahrung technologisch zu fixieren
versucht. Später erklärt Hiroshi, dass er sich selbst in den Aufnahmen kaum
wiedererkennt. Stattdessen sei es so, als schaue er einem Fremden dabei zu, wie
er mit seinen Kindern spiele: „When I see myself in pictures or in videos, I
just can't recognise that person as me. I have no impression of having been there. It's like I'm watching a film
made about someone other than me. I think maybe someone who looks like
me is playing at being me'” - Denn es ist am Ende eben doch nur eine Kamera,
die die hochkomplexe sensorische Erfahrungswelt von Hiroshi wiederzugeben
versucht, Bild und Ton zu einer Einheit verschmolzen, zwei von fünf Sinnen,
eine Repräsentation, in anderen Farben und anderen Auflösungsraten. Wie soll die
Komplexität der Welt, geschweige denn die Komplexität sensorischer Wahrnehmung
hier angemessen Ausdruck finden? Sie kann nur repräsentiert werden -
abstrahiert, vereinfacht, heruntergebrochen.
"Sekine himself doesn't even recognise that he has a
personality. But meeting his
family proved to me that you can have an identity that depends on other
people's memories. So even when you die, part of your identity will
reside in others." - Im Schicksal von Hiroshi spiegeln sich die ewigen
Streitfragen dokumentarischen Filmemachens wider - Fragen zum Wesen von
Erinnerung, Identität, Wahrheit und Realität. Und worin besteht der Sinn von alledem? Sich in den Erinnerungen anderer Menschen zu verewigen, um im
Kollektivgedächtnis einer Gesellschaft in die Ewigkeit getragen zu werden?
Warum ist dieser Wunsch überhaupt da? Was kümmert uns die Welt, sobald wir
diese verlassen haben? Oder ist es bloß Narzissmus, nicht einmal im Tod
vergessen werden zu wollen, sondern auf ewig erinnert? Kore-eda scheint die Identität
des Menschen relational zu denken. Erst im Zusammenspiel mit anderen kann sie
sich formen, wachsen und erinnert werden. Die einzelnen Bauteile unseres Ichs
verhaften sich in den Menschen, die uns umgeben und erst in ihrer Summe ergeben
sie den Menschen in seiner Gesamtheit. Die Identität konstituiert sich also aus
einer Vielzahl von Erinnerungen. Und sie wird selbst zum Gegenstand einer
Erinnerung – in den Menschen, mit denen wir unser Leben teilen. Das ist, bei aller Tragik, der Trost, den
„Without Memory“ nahezulegen vermag: nicht zu verschwinden, solange man
erinnert wird. Nur wofür ist man wert, erinnert zu werden?
"The
halfway house of memory: an interview with Hirokazu Kore-eda.." The
Free Library. 2003 CineAction 23 Aug. 2018 https://www.thefreelibrary.com/The+halfway+house+of+memory%3a+an+interview+with+Hirokazu+Kore-eda.-a099288843
Jonathan
Romney, “The Memory Game,” The
Guardian, 28 September 1999, https://www.theguardian.com/culture/1999/sep/28/artsfeatures2
Den gesamten Film gibt es hier online.
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