Wenn sich Hollywood einer wahren
Begebenheit annimmt, schwingt nicht selten die berechtigte
Befürchtung der ungenierten Vorlagen-Schändung mit. Zu oft bewiesen
übereifrige Filmemacher eindrucksvoll ihr fehlendes Gespür für die
jeweilige Thematik. Tommy O'Haver aber wart mit seiner Verfilmung
den Respekt vor diesem 1965 ereigneten Verbrechen, vor allem deshalb,
weil er es versteht seine glänzende Inszenierung nie in den
Mittelpunkt rücken zu lassen und auf eine übermäßige
Dramatisierung gänzlich zu verzichten.
„An American Crime“ ist höchst
subtiles Suspense-Kino, reinrassiger Psycho-Horror in seiner
schlimmsten Form und doch fortwährend die seriöse Aufarbeitung von
Kriminalgeschichte in nervös-fiebriger Atmosphäre. Die Wirkung, die
„An American Crime“ erzielt, resultiert dabei weniger von der
gezeigten Gewalt, als von jener schier unbändigen Wut, die die
glänzend spielende Catherine Keener in ihrer unfassbaren
Vielschichtigkeit zwar stetig suggeriert, aber nie offen darlegt. Sie ist das böse. Sie ist es,
gegen das unsere Heldin (herausragend: Ellen Page) vorzugehen hat.
Dem Zuschauer bleibt gar keine Wahl, er hat sich – seinem Gewissen
und diversen Introjektionen folgend – auf ihre Seite zu stellen.
Wir hoffen, wir bangen, wir zittern und wir trauern mit der
bemitleidenswerten Sylvia. Und wir werden wütend, wenn wir das ihr
angetane Leid erblicken.
O'Haver involviert uns emotional und darf sich
spätestens mit Beginn des gezeigten Martyriums unserer vollen
Aufmerksamkeit gewiss sein. Er generiert eine unglaubliche Wut auf
alle, die sich unserer Protagonistin entgegenstellen und lässt damit
eine ungewöhnlich starke – wenn auch primär durch Mitleid
bestimmte – Bindung zu dieser entstehen. Und doch lässt O'Haver's
kühle Inszenierung eine eigene kritische Betrachtung des Gezeigten
und vor allem die alles entscheidende Frage zu: Was würde ich tun?
Die wahre Natur des Menschen ist in „An
American Crime“ eine zutiefst bösartige. Der Mensch ist verkommen,
ein Sadist und Voyeur, ein Gewalttäter und vor allem jemand, der all
seine moralischen Prinzipien im Dienste des Kollektivs über Bord
wirft – ein Mitläufer also. Als Instrument dient die Angst. Angst
vor Isolation, Angst vor Gewalt und gesellschaftlichen Unverständnis.
„An American Crime“ ist damit vor allem ein beeindruckendes
Zeugnis für jene Gruppendynamik, die unter einer autoritären und von
völlig absurden Welt- und Feinbildern geprägten Instanz entstehen und wachsen kann. Sie bringt das Schlimmste im
Menschen zum Vorschein und O'Haver begeht nicht den Fehler, das
Verhalten seines schweigenden und das Verbrechen tolerierenden
Kollektivs als Resultat der alles bestimmenden Angst zu erklären.
Der unbändige Drang nach
Dekonstruktion, nach Gewalt und damit auch nach dem damit
einhergehenden Leid, wird in „An American Crime“ als Teil unserer
Natur angesehen. Unbegreiflich, aber fortwährend präsent. Es ist
weniger der Ur-Trieb des Selbstschutzes, der die Gruppe junger
Gewalttäter antreibt, es ist ihre Natur, ein immer beständiger
Atavismus nach Zerstörung. Es sind somit weniger die Figuren
interessant, als ihr archetypisches Verhalten, das O'Haver sorgfältig
seziert, analysiert und letztlich auch reflektiert. Dennoch – und
das macht „An American Crime“ zwar weniger radikal, dafür aber
weitaus optimistischer – führt der US-Amerikaner das Verbrechen
auch auf soziale Aspekte zurück: Sylvia dient als Projektionsfläche
für Aggressionen, für Unzufriedenheit und beendet die Suche nach
einem Schuldigen. Historisch belegtes Gruppenverhalten.
Schockierender wird „An American
Crime“ durch die Instrumentalisierung von Kindern. Junge Menschen
sind formbarer und empfänglicher für Ideologien, vor allem aber für
Feinbilder. Aber auch hier weiß O'Haver zu differenzieren und
zeigt Unterschiede zwischen einzelnen Gruppenmitgliedern und deren
Verhaltensweisen auf. Selbst autonome Individuen scheinen am Ende machtlos gegen den Strom der Allgemeinheit. Denn selbst Zivilcourage
ist nach Eintreten des finalen und perfekt getimten Twist nur eine
Illusion. Sie wird als Wunschvorstellung deklariert. Als nie wirklich
existente Option. Genugtuung erfährt der Zuschauer erst am Ende und
auch dort nagt weiterhin die bohrende Frage an uns: Was würde ich tun?
Der Zuschauer erfuhr eine moralische Läuterung. „An American
Crime“. Ein filmisches Mahnmal, nahe der Perfektion.
8/10
Einer der verstörendsten (und besten) Filme, die ich dieses Jahr "genießen" durfte. Wunderbarer Text. :)
AntwortenLöschenGrüße
Dankeschön. Endlich mal jemand, der hierzu seine Meinung sagt. War auch sehr begeistert und absolut mitgenommen von diesem fiesen, kleinen Genre-Mix. :)
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