Montag, 24. September 2012

"An American Crime" [US '07 | Tommy O´Haver]

Wenn sich Hollywood einer wahren Begebenheit annimmt, schwingt nicht selten die berechtigte Befürchtung der ungenierten Vorlagen-Schändung mit. Zu oft bewiesen übereifrige Filmemacher eindrucksvoll ihr fehlendes Gespür für die jeweilige Thematik. Tommy O'Haver aber wart mit seiner Verfilmung den Respekt vor diesem 1965 ereigneten Verbrechen, vor allem deshalb, weil er es versteht seine glänzende Inszenierung nie in den Mittelpunkt rücken zu lassen und auf eine übermäßige Dramatisierung gänzlich zu verzichten.

„An American Crime“ ist höchst subtiles Suspense-Kino, reinrassiger Psycho-Horror in seiner schlimmsten Form und doch fortwährend die seriöse Aufarbeitung von Kriminalgeschichte in nervös-fiebriger Atmosphäre. Die Wirkung, die „An American Crime“ erzielt, resultiert dabei weniger von der gezeigten Gewalt, als von jener schier unbändigen Wut, die die glänzend spielende Catherine Keener in ihrer unfassbaren Vielschichtigkeit zwar stetig suggeriert, aber nie offen darlegt. Sie ist das böse. Sie ist es, gegen das unsere Heldin (herausragend: Ellen Page) vorzugehen hat. Dem Zuschauer bleibt gar keine Wahl, er hat sich – seinem Gewissen und diversen Introjektionen folgend – auf ihre Seite zu stellen. Wir hoffen, wir bangen, wir zittern und wir trauern mit der bemitleidenswerten Sylvia. Und wir werden wütend, wenn wir das ihr angetane Leid erblicken.

O'Haver involviert uns emotional und darf sich spätestens mit Beginn des gezeigten Martyriums unserer vollen Aufmerksamkeit gewiss sein. Er generiert eine unglaubliche Wut auf alle, die sich unserer Protagonistin entgegenstellen und lässt damit eine ungewöhnlich starke – wenn auch primär durch Mitleid bestimmte – Bindung zu dieser entstehen. Und doch lässt O'Haver's kühle Inszenierung eine eigene kritische Betrachtung des Gezeigten und vor allem die alles entscheidende Frage zu: Was würde ich tun?

Die wahre Natur des Menschen ist in „An American Crime“ eine zutiefst bösartige. Der Mensch ist verkommen, ein Sadist und Voyeur, ein Gewalttäter und vor allem jemand, der all seine moralischen Prinzipien im Dienste des Kollektivs über Bord wirft – ein Mitläufer also. Als Instrument dient die Angst. Angst vor Isolation, Angst vor Gewalt und gesellschaftlichen Unverständnis. „An American Crime“ ist damit vor allem ein beeindruckendes Zeugnis für jene Gruppendynamik, die unter einer autoritären und von völlig absurden Welt- und Feinbildern geprägten Instanz entstehen und wachsen kann. Sie bringt das Schlimmste im Menschen zum Vorschein und O'Haver begeht nicht den Fehler, das Verhalten seines schweigenden und das Verbrechen tolerierenden Kollektivs als Resultat der alles bestimmenden Angst zu erklären.

Der unbändige Drang nach Dekonstruktion, nach Gewalt und damit auch nach dem damit einhergehenden Leid, wird in „An American Crime“ als Teil unserer Natur angesehen. Unbegreiflich, aber fortwährend präsent. Es ist weniger der Ur-Trieb des Selbstschutzes, der die Gruppe junger Gewalttäter antreibt, es ist ihre Natur, ein immer beständiger Atavismus nach Zerstörung. Es sind somit weniger die Figuren interessant, als ihr archetypisches Verhalten, das O'Haver sorgfältig seziert, analysiert und letztlich auch reflektiert. Dennoch – und das macht „An American Crime“ zwar weniger radikal, dafür aber weitaus optimistischer – führt der US-Amerikaner das Verbrechen auch auf soziale Aspekte zurück: Sylvia dient als Projektionsfläche für Aggressionen, für Unzufriedenheit und beendet die Suche nach einem Schuldigen. Historisch belegtes Gruppenverhalten.

Schockierender wird „An American Crime“ durch die Instrumentalisierung von Kindern. Junge Menschen sind formbarer und empfänglicher für Ideologien, vor allem aber für Feinbilder. Aber auch hier weiß O'Haver zu differenzieren und zeigt Unterschiede zwischen einzelnen Gruppenmitgliedern und deren Verhaltensweisen auf. Selbst autonome Individuen scheinen am Ende machtlos gegen den Strom der Allgemeinheit. Denn selbst Zivilcourage ist nach Eintreten des finalen und perfekt getimten Twist nur eine Illusion. Sie wird als Wunschvorstellung deklariert. Als nie wirklich existente Option. Genugtuung erfährt der Zuschauer erst am Ende und auch dort nagt weiterhin die bohrende Frage an uns: Was würde ich tun? Der Zuschauer erfuhr eine moralische Läuterung. „An American Crime“. Ein filmisches Mahnmal, nahe der Perfektion.  

8/10

2 Kommentare:

  1. Einer der verstörendsten (und besten) Filme, die ich dieses Jahr "genießen" durfte. Wunderbarer Text. :)
    Grüße

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    1. Dankeschön. Endlich mal jemand, der hierzu seine Meinung sagt. War auch sehr begeistert und absolut mitgenommen von diesem fiesen, kleinen Genre-Mix. :)

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