Samstag, 5. März 2016

"Poetry" [KR '10 | Lee Chang-dong]

Unter die Bettdecke kriechen, unsichtbar werden, allem entfliehen. Verantwortung zu übernehmen bedeutet nicht, die Mutter des Opfers mit Entschädigungszahlungen für die "Dummheiten" der eigenen Gören milde zu stimmen. Verantwortung zu übernehmen bedeutet etwas anderes. Mi-ja, eindringlich gespielt von Yoon Jeong-hee nach sechzehnjähriger Leinwand-Abstinenz, zeigt einen Weg auf: die Bettdecke entreißen, alles in Frage stellen, was gesichert schien, um über den Dialog Veränderung anzustoßen. "Poetry" zeichnet das traurige Bild einer Kultur des Schweigens, die generationsübergreifend, kollektiv den selben Verdrängungsmechanismus vollzieht. Schließlich hat es Tradition den Schein zu wahren, um den Karrieren Empathie-beschränkter, verzogener Rotzlöffel nicht im Wege zu stehen. Dementsprechend hart fällt das Urteil über die nachwachsende Generation aus, die dauerfressend vor der Flimmerkiste hockt und mit dem letzten Quäntchen Respekt den Aufforderungen ihrer Geldgeber folge leistet. Womöglich steht "Poetry" damit in der ewigen Tradition jener Pessimisten, der jungen Generation alles abzusprechen, was die vorige ausgemacht hat, wenngleich sie nur in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen können. Wenn Mi-ja also für ihren Ziehsohn nichts außer Belehrungen übrig hat, von denen man ausgehen kann, dass sie auch schon vor der Vergewaltigung zum Alltag gehörten, ist dessen Verhalten plötzlich kausal erklärbar und ein winziges Mosaik zum Verständnis der gesellschaftlichen Strukturen, die hier aufgezeigt werden, und denen all diese Figuren entsprungen sind, identifiziert. Womöglich trifft "Poetry" auch etwas wahres, viel tiefer liegendes. Einen kollektiven Wesenskern, der mehr Energie darauf verschwendet die Spuren unrechten Verhaltens zu beseitigen, statt zu seinen Gründen vorzustoßen. Vielleicht weil es zu tief führt, und alles blank daliegen würde, ohne schützende Haut, und weil vergessen leichter ist, als zu ändern, was dir seit Anbeginn vorgelebt wurde und tief in dich eingekehrt ist. Ein deprimierender Gedanke

7/10

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