[...] Im abgeschlossenen Raum des Ateliers scheint der Determinismus der
Ständegesellschaft für wenige Augenblicke überwunden. Die Kunst
legitimiert die Begegnung der Schichten nicht nur, sie stellt auch den
Raum der Begegnung bereit. Sie erlaubt die Aufhebung der Distanz, die im
Hausflur noch gewahrt werden muss. Asymmetrisch bleibt die zärtlich
geschilderte Beziehung zwischen Vermeer und Griet natürlich dennoch:
Stand und Geschlecht sind selbst im Prozess des Kunstschaffens nie ganz
vergessen; Vermeer ist der Malende, Griet die Gemalte. Sein Blick
bestimmt ihre Repräsentation. Die Kunst kann die Konventionen seiner
Zeit vielleicht kurzzeitig beiseiteschieben, bleibt aber gleichzeitig
immer in ihnen verhaftet. Für Griet besteht die Aussicht, Wissen über das
Kunsthandwerk zu erlangen, das ihr sonst verwehrt blieb. Die
Begegnung mit Vermeer erlaubt ihr einen alternativen Blick auf die
Welt, den sie niemals einnehmen darf. „Das Mädchen mit dem
Perlenohrgehänge“ ist deshalb sicher kein Ausdruck einer
Fremdermächtigung, sondern eher einer großzügigen, paternalistischen
Geste. Und doch manifestiert sich gerade dort das Phantasma, dem ein
ganz ungeheurer Wunsch zugrunde liegt: die Auflösung der
Ständegesellschaft und damit all jener Barrieren, die die Berührung
verhindern.
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