Auf unzähligen
Ebenen wurde „Antichrist“ inzwischen gedeutet und erforscht. Und
sicherlich eröffnet von Trier durch zahlreiche Hinweise, Symbole aus
Theologie und Mythologie, sowie die vielfältig interpretierbare
Psychologie seiner Figuren einen großen Raum für eigene
Deutungsansätze, die dank der codierten Filmsprache auch
entsprechend variieren können. Dennoch tendiere ich am Ende des
Tages eher dazu, seinem Film ein aufgehendes, nahtlos in sich greifendes Gesamtkonzept zu versagen und „Antichrist“
vielmehr als assoziativen Seelenstriptease zu begreifen, als Versuch
eines Regisseurs den eigenen Schmerz filmästhetisch zu übersetzen,
vielleicht auch nur zu umschreiben und codiert (nonverbal)
auszusprechen. Macht man sich nun also auf die Suche nach Antworten
wird „Antichrist“ scheitern, weil er selber nur von der Suche
erzählt. Es folgen somit einige ungeordnete Beobachtungen, die ich
auf die für mich wichtigsten Aspekte knapp heruntergebrochen habe.
Für viele dürfte ich keine neuen Erkenntnisse formulieren und
selbstverständlich erhebe ich keinerlei Anspruch auf
Allgemeingültigkeit.
Trier zwingt seine
Figuren im Prolog durch die Libido zur Handlungsunfähigkeit und
setzt der Lust, den Hochgefühlen seiner beiden Protagonisten
gleichzeitig das Grauen und die Unmittelbarkeit des Todes entgegen.
Die Schaffung neuen Lebens ist hier nur ein Zimmer weit vom Ende
eines anderen entfernt - ja, von Trier treibt diesen Kontrast sogar
so weit, dass der Höhepunkt des Sexualaktes auf den Moment fällt,
in dem der Akt des Todes seine Endgültigkeit erreicht. Das Erliegen
der niederen Triebe, die Hingabe zur Lust, ist nun nichts weiter, als
der scheinbare Grund für den Tod des Kindes. Infolgedessen ist
Sexualität in „Antichrist“ immer auch mit Sünde, mit Schmerz
und untrennbar mit dem Tod verbunden. Jedoch ist diese gestörte
Wahrnehmung von Sexualität nur einseitig und auf die Frauenfigur
beschränkt. Der Mann begreift Sexualität nach wie vor ohne die
negativen Konnotationen, die aus dem Prolog für die Frau
folgen.Womöglich ist das auch ein Grund für die Gewalt, die sich
später gegen ihn richtet.
Nun haben wir also
zwei Figuren, von denen die eine (Dafoe) nur einen kurzen Moment der
äußerlich verlautbarten Trauer zeigt und eine andere (Gainsbourg),
die in schwere Depressionen verfällt. Dafoe scheint unmittelbar nach
Ende der Trauerzeremonie einen souveränen Zugang zum plötzlichen
Verlust gefunden zu haben, Gainsbourg dagegen nicht. Sie ist gar auf
die Hilfe ihres Mannes angewiesen und beansprucht diese auch für
sich. Der Umgang zwischen diesen beiden Figuren im ersten Kapitel
trägt auch gleichzeitig den Dualismus zwischen Moderne und Tradition
in sich. Dafoe versucht sich den Ursachen der Symptome über moderne,
therapeutische Methoden zu nähern und zieht psychologische Lehren
seiner Profession zu Rate (Konfrontationstherapie). Mit dem Fortlauf
der Geschichte stößt dieser Ansatz jedoch auf entfesselte
Irrationalität.
Gainsbourg hat die
Inhalte ihrer Dissertation, die vermeintlichen Wahrheiten des
Christentums (Tradition) zu ihren Wahrheiten gemacht. Ihre Vernunft
ist okkupiert. Interessant ist hier, dass der Unvernunft der Frau,
die des Mannes vorausgegangen war, als er beschloss sie trotz
fehlender emotionaler Distanz selber zu therapieren. Die zunächst
klaren Positionen der Figuren zueinander, beginnen sich mit dem
Betreten von Eden zu verschieben. Die dominante Figur des Mannes
versucht zwar fortwährend die Kontrolle zu wahren, doch schon mit
dem Aufstieg zur Waldhütte gerinnt in ihm ein erster,
unausgesprochener Zweifel als er den verstorbenen Fötus eines Rehs
erblickt.
Dann führt
„Antichrist“ die eingeführten Motive um Sexualität und Christentum weiter (und fügt mit Kindesmissbrauch und
Hexenverfolgung weitere hinzu), macht es mir jedoch schwer, über die
Offensichtlichkeiten hinaus zu Erkenntnissen zu gelangen.
Offensichtlich ist, dass mit der bessernden Verfassung der Frau, der
Mann in eine Art Lethargie verfällt. Die Mittel der modernen
Psychologie haben scheinbar gefruchtet - „Freud is dead, isn't
he?“. Zusätzlich dazu verschiebt sich die Wahrnehmung beider zur
Natur. Die Frau besucht nun befreit die Orte, die ihr auf dem Hinweg
noch Angst und Schmerzen bereitet haben (Brücke), der Mann trifft
jedoch auf einen Fuchs, der sich mit den Worten „Chaos reigns!“
an ihn wendet. Währenddessen verspeist der Fuchs seine Innereien;
das Äquivalent zu der Beobachtung, die die Frau gemacht hat, als ein
aus dem Netz gefallenes Küken von einem größeren Vogel verspeist
wird (natürliche Auslese → Darwinismus).
Der Mann findet
anschließend eine Zusammenstellung der Materialien, die seine Frau
für ihre Dissertation über Hexenverfolgung angesammelt hat. Schon
zuvor macht er die Entdeckung, dass seine Frau für die Deformation
der Füße ihres Kindes verantwortlich war, indem sie ihm die Schuhe
einen gesamten Sommer über verkehrt herum anzog. Die Moderne versagt
in dem Bestreben sich der Natur aufzudrängen, zumindest ihrem
entrückten Verständnis von Moderne nach. Ihr Selbsthass scheint nun
weit weniger irrational und die Zweifel des Mannes ganz konkret.
Daraufhin kommt es erst zu Sex und dann mit dem Zerquetschen der
Hoden des Mannes zu einer Gewalteskalation, die sich ganz konkret
gegen dessen Sexualität richtet und mit der späteren Verstümmelung
der Klitoris, die sich die Frau selber zufügt, auch gegen ihre
eigene. Sie bestraft numher also nicht mehr nur sich selbst, sondern
übernimmt angesichts ihrer verzerrten Wahrnehmung, Verantwortung für
ihre Sünden (der Sex, der mit dem Tod ihres gemeinsamen Sohnes
zusammenfiel).
Die Geschehnisse in
der Waldhütte gipfeln im Tod der Frau und ihrer anschließenden
(Hexen-)Verbrennung. Dieser Klimax markiert jedoch nicht nur die
Katharsis seiner Figuren, sondern verhindert auch eine Ankunft des Antichristen, den Frau und Mann zuvor vor einem in Leichen
labenden Baum gezeugt hatten. Diese Szene erhebt die Männerfigur
sogleich in den Status des Protagonisten und erklärt die Frau zum
Antagonisten. Diese Verteilung der Geschlechter mag auch die
Grundlage für die albernen Vorwürfe der Misogynie gebildet haben
und zeugt lediglich von einer starren, verbohrten Filmrezeption, die
jeden Krümel auf ihre Geschlechterrollen hin untersuchen muss, ohne
die Narrative zu erfassen, um dann womöglich zu der Erkenntnis zu
gelangen, dass ein solcher Film so, und nur so, funktionieren kann.
Was bleibt also
festzuhalten? Wir haben eine Frau, die vom Gedanken besetzt ist, nur
durch Selbstkasteiung und schließlich den Tod Erlösung zu finden
und wir haben einen Mann, der zunächst den sicheren Hafen der
Vernunft markiert, dann aber mit dem Erreichen seiner Ziele über die
Werkzeuge der Moderne von Zweifeln belegt ist. Die Wahrnehmung der
Natur wandelt sich immer nur mit der Verfassung der beiden Figuren,
ist im einen Moment ein Hort, in dem das Chaos und der Stärkere
regiert und im anderen eine spirituelle Ruhestätte. Das Hexenmotiv
lässt uns in dem Glauben, dass am Ende Gerechtigkeit widerfahren
ist.
Vielleicht ist „Antichrist“ also nicht mehr als das: „Antichrist“ spielt klug mit Motiven und entwirft tatsächlich originäre Kinobilder von malerischer Schönheit. Er versagt sich aber auch einer dogmatischen Lesart und ist vielfältig auslegbar, und vielleicht ist das auch vollkommen okay, weil es der Diskussion über dieses wunderbare Medium nur zuträglich ist. Zudem beherbergt er das Kostbarste, zu dem Kino überhaupt fähig ist: er ist Ausdruck eines Künstlers, der sich uns offenbart; in allen, den dunkelsten, den ehrlichsten Facetten.
Vielleicht ist „Antichrist“ also nicht mehr als das: „Antichrist“ spielt klug mit Motiven und entwirft tatsächlich originäre Kinobilder von malerischer Schönheit. Er versagt sich aber auch einer dogmatischen Lesart und ist vielfältig auslegbar, und vielleicht ist das auch vollkommen okay, weil es der Diskussion über dieses wunderbare Medium nur zuträglich ist. Zudem beherbergt er das Kostbarste, zu dem Kino überhaupt fähig ist: er ist Ausdruck eines Künstlers, der sich uns offenbart; in allen, den dunkelsten, den ehrlichsten Facetten.
Hab' den Text mal auf Facebook geteilt. ;)
AntwortenLöschenWitzigerweise hat mich Punsha vor wenigen Stunden darauf hingewiesen. Danke, freut mich wirklich!
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